Das
weiße Kleid
Zeitlupe
Als
ich etwa zehn Jahre alt bin, bekomme ich ein weißes, luftiges
Sommerkleid. Es ist mit Schrift bedruckt und erinnert mich an
Zeitungen, Zeitschriften und die große weite Welt. Wir haben
Verwandte in Übersee, Amerika, Argentinien, Schweden. Das Kleid
wirkt brav und gleichzeitig hübsch, luftig, hat einen schwingenden
Rock. Oben mit einem kleinen Kragen eng geschlossen, kurze,
angeschnittene Ärmel, weist es frisch, frech und keck in die weite
Welt. Ich bin stolz und glücklich damit. Noch keine Frau, die Brust
flach und der Kragen hochgeschlossen, aber knie kurz, läßt es meine
Beine frei und der Rock hat Schwung und gibt meiner Bewegungsfreude
genügend Raum. Die Freude kurz vor dem Ausbruch der Weiblichkeit,
noch ungehindert von allem, was Angst machen könnte. Gefühle wie
der Wind . Du kannst in die Welt hinaus laufen und wirst trotzdem
geliebt und fühlst dich zugehörig, welch eine Aussicht auf’s
Leben, das sich vor mir ausbreitet . In der Schule fange ich an,
eine Schülerzeitung zu schreiben, bekomme auch ein paar Exemplare
zustande, mit Artikeln und Rätseln.
Nach
der Schule, nach dem Mittagessen und den Hausaufgaben, setze ich mich
hin und tüftele an meiner Zeitung herum. Nach dem Muster der
Fortsetzungsromane in der Tageszeitung will ich auch einen Roman
schreiben. Mit großem Elan fange ich an, gebe aber nach einigen
Seiten auf. Mein Bruder Michael macht seinen Bundeswehr Dienst bei
der Marine. Er trägt bei seinen Aufenthalten zu Hause eine
todschicke weiße Uniform, schreibt Karten aus Spanien, Cadiz, z.B.
Ich sammle die Briefmarken, hab schon eine große Sammlung an
Briefmarken, die ich von den Briefen der Verwandten aus Südamerika,
Nordamerika und Schweden mit Wasserdampf ablöse. Es gibt so Vieles,
was ich jetzt schon kann, durch die Briefmarken kommt die weite Welt
zu mir, ich lese und lese und lese, jetzt auch schon mal Karl May
oder Lederstrumpf und andere Abenteurer-Klassiker der ganzen Welt.
Auch Asien, Indonesien sind die Schauplätze meiner Lektüren. Ich
bekomme einen Brieffreund aus Japan.Mit ihm korrespondiere ich einige
Jahre lang, in großen Abständen. Und dann das Schreiben und die
Versuche einer Zeitung. Ich schwelge in dem Gefühl, was ich später
alles machen kann, wenn ich groß bin. Erstmal will ich Stewardess
werden. Im Flugzeug.
Wenn
das mein großer Bruder wüsste
Zu
der Zeit des weißen Kleides verbringe ich meine Sommerferien auf dem
Land bei Verwandten, und mit meiner Cousine höre und singe ich
Schlager von Conny Froboess und Peter Kraus. Ich liebe die helle
Stimme von Conny, etwas frech und knabenhaft. „Wenn die Conny mit
dem Peter“, und “Wenn das mein großer Bruder wüsste“. Wir
singen die Lieder draußen und drinnen, inszenieren Auftritte und
spielen in der Phantasie schon erste Verliebtheiten durch.
Meine
Brüder hören Jazz „Papa Bue’s Viking Jazz Band” und Chris
Barber „White Christmas“, und „When the Saints go marching
in“.
Die
Verunsicherung und die schmerzlichen Peinlichkeiten der Pubertät
noch nicht kennend, ein Vogel, der lernt zu fliegen, und sich an
seinen ersten Flugversuchen und Fortschritten berauscht, nichts hemmt
seinen Flug. Oder doch? Als Kind bin ich oft krank, langweile mich im
Bett und fühle mich einsam, schlapp und schwach, aber Gott sei dank
geht es immer wieder bergauf. Meine Mutter pflegt mich, bringt mir zu
essen und zu trinken, den Vater sehe ich nicht so oft. Er schaut mal
herein und sagt: „ Na, du krankes Hühnchen!“ Meine Mutter, oder
mein Vater oder meine Geschwister kommen nicht auf die Idee, sich
mit mir zu beschäftigen, mir vor zu lesen, wenn ich krank bin. Da
helfen nur die Bücher, die ich selbst lese, sobald es mir besser
geht. Meistens Abenteuer-Bücher von Enid Blyton: „Die See“, „der
Berg“, „die Insel der Abenteuer“. Die „Fünf Freunde...“
Serie und „das Geheimnis um... “. Eine Gruppe von Kindern klärt
Verbrechen auf, in teilweise abenteuerlichen Landschaften. Am Meer,
in Ruinen, Höhlen, im Gebirge. Die weite Welt kommt herein, die
Kinder sind befreundet, halten zusammen, haben viel Spaß und erleben
aufregende Abenteuer, aus denen sie, am Ende, natürlich unversehrt
herauskommen. In der Bücherhalle sind diese Bücher meistens
ausgeliehen, manchmal habe ich Glück. So ein Buch zu Weihnachten zu
bekommen, ist ein Luxus, denn sie sind teuer.
Sorge
für’s leibliche Wohl ist selbstverständlich. Andere Wünsche
bleiben verborgen. “Das Wasser war viel zu tief“ heißt es in dem
Lied „Es waren zwei Königskinder“, das mir meine Mutter vorsang,
als ich so vier, fünf Jahre alt war.
Bei
den Ursulinen im Gymnasium habe ich gemischte Gefühle. Die
Mathematik – Schwester Beatrix ist sehr dynamisch und
temperamentvoll und ich fühle mich von so viel Energie etwas
eingeschüchtert. Unsere Klassenlehrerin ist weltlich und
verheiratet. Sie mag mich, wie sie meiner Mutter beim Elternsprechtag
sagt, weil ich so schöne Phantasiegeschichten aus drei Wörtern
schreiben kann. So eine Tochter wie mich hätte sie auch gern. Ich
bin Zweitbeste in der Klasse, hab lauter Zweien. Mit der Erstbesten,
die lauter Einser vorweisen kann, werde ich zur Einweihung des neuen
katholischen Erzbischofs geschickt, Ich bin stolz .
In
der 7.Klasse fange ich an, mich im Unterricht zu langweilen. Ich
halte ausgedehnte Schwätzchen mit meiner Mitschülerin und reagiere
trotzig, wenn Frau T. mich ermahnt. Ich falle in Ungnade. Wir wollen
ein Theaterstück aufführen, ein Märchen. Jetzt bin ich mit
Begeisterung bei der Sache. Die Prinzessinnenrolle kann ich auswendig
und ich habe im Gefühl, dass ich sie bekomme. Sie ist mir sozusagen
auf den Leib geschrieben. Das findet meine Klassenlehrerin zwar auch,
aber sie gibt mir die Rolle nicht, um mich zu strafen. Ich bin wütend
und enttäuscht über meine Lehrerin. Ich bekomme keine Sprechrolle
und muss einen Hasen spielen. Ich soll gedemütigt werden. Jetzt hab
ich keine Lust mehr zur Schule. Ich lass mich hängen und schleppe
mich bis zur achten Klasse. Dann bleibe ich sitzen, schon aus Trotz
und zur Provokation meines Vaters, der mich dennoch für intelligent
genug hält.
Seine
Reaktion finde ich gut, auch wenn sie nicht ganz den Tatsachen
entspricht. Er murmelt so etwas wie: „Die Nonnen haben dich nicht
richtig verstanden …“ und schickt mich auf eine weltliche Schule.
Hinter
den Spiegeln
Ich
springe Seil auf der Wiese, schneller, immer schneller. Erschöpft
halte ich inne und schaue mich um. Das Haus betrete ich durch die
angelehnte Tür. Links, im Salon, sitzt sie und liest. Ich schaue
vorsichtig in das Zimmer herein. Komm herein! sagt sie ruhig. Ich
setze mich in einen Sessel. Mein Blick fällt auf einen Leuchtglobus,
der auf dem schweren Eichentisch steht. Ich drehe vorsichtig daran
und schaue auf die Länder und Kontinente.
Argentinien,
sage ich, wo ist das? Weißt du, in welchem Kontinent es liegt? Ja,
freue ich mich, in Südamerika. Ich hab’s schon. Buenes Aires ist
die Hauptstadt. Da hab ich Verwandte. Sie haben uns Pakete geschickt,
als ich noch sehr klein war. Mit leckerem Milchpulver und so etwas
wie Caramel. Das hab ich noch nie gegessen vorher. Und einmal haben
sie uns besucht und für uns alle eine Kutsche bestellt. Mit der
haben wir einen langen Ausflug auf’s Land gemacht.
Weißt
du denn, wie es in Argentinien aussieht? Ich glaube, da ist alles
ganz groß und weit. Meine Verwandten haben zwei Landgüter, auf
denen Wein wächst. Durch ein Weingut fließt ein Fluss. Da ist alles
viel größer als hier.
Ich
betrachte mein Kleid und die Schrift auf dem Stoff, streiche über
meinen Rock. Oh, darüber könnte ich ja mal in meiner Zeitung
schreiben. Dann hab ich ein Kapitel: Aus der weiten Welt!
Sie
lächelt zustimmend. Erzähl doch mal von Argentinien!
Meine
Tante Eila war vier Jahre in Argentinien. Sie hat zwei ihrer
Schwestern begleitet, weil die sehr krank waren, Tuberkulose. Sie
brauchten Wärme.
Sie
ist mit ihrem Bruder mit dem Schiff gefahren. Auf dem Schiff hat sie
den Leuten erzählt, ihr Bruder sei ein Jude, weil er so eine
Hakennase hatte. Damit hat sie sich die Zeit vertrieben. In Buenos
Aires wollte sie spanisch lernen und hat versucht, sich mit den
Marktfrauen zu unterhalten. Das hat ihre Schwester ihr verboten. Sie
sollte nicht mit den Marktfrauen sprechen.
Zu
uns hat sie immer abends gesagt „A hora me voi, und buenas noches“,
das heißt, glaube ich „Ich gehe jetzt und: gute Nacht“. “
Ich
fühle mich jetzt wohl und munter, möchte dennoch zurück, nach
Hause. „Ich sage jetzt auch „a hora me voi“
Sie
steht auf, lächelt mir zu, sagt: Bis zum nächsten Mal! und geht aus
dem Salon.
Vor
dem Spiegel kneife ich ein Auge zu und laufe nach draußen, um
Ballprobe zu spielen.
Zeitlupe
Das
weiße Kleid und die Begeisterung, die damit einhergeht, verliert
allmählich seinen Zauber. Langsam und scheinbar unbemerkt schleicht
sich eine Angst ein, die meine kurz aufgeflammte unbändige
Bewegungslust hemmt. Angst ist schon lange meine Begleiterin. Jetzt
verändert sie ihr Gesicht.
Frau
T. knallt das Klassenbuch auf und zu. Ihre Schwangerschaft ist nicht
mehr zu übersehen.
Neuerdings
hat sie schlechte Laune, hält uns Moralpredigten. Wir dürfen keine
langen Hosen tragen ohne einen Rock darüber, manchmal vergesse ich
den Rock, weil ich es so grässlich finde, den Rock über der Hose.
Auf der Toilette ziehe ich mich um. Man sieht es dann nicht, wenn ich
einen langen Mantel darüber trage.
Beim
Sport müssen wir Röcke tragen über dicken blauen Pluderhosen.
Manchmal provozieren wir und erscheinen in den schicken, engen und
sehr kurzen Stretchhosen. Dann dürfen wir nicht mit turnen.
Ich
verstehe nicht, was sie will. Sie hat gesehen, dass sich ein oder
zwei Mädchen von der Schule haben abholen lassen, von Jungen. Das
Jungengymnasium Carolinum und unsere Schule sind durch eine hohe
Mauer getrennt. Man kann nicht darüber schauen.
Was
ist schon dabei? Sie sagt nicht, warum es ihr nicht passt. Tobt
nutzlos herum.
Sollte
sie sich nicht freuen, jetzt, wo sie ein Kind bekommt? Oder ist das
so schrecklich?
Ich
bin wütend, dass sie auf so unverständliche Weise schimpft. Auch
enttäuscht. Ein bisschen ähnelt sie einer bösen Fee.
Meine
Achtung vor ihr sinkt.
Ich
lerne jetzt Klavier spielen, habe eine sehr nette Lehrerin, geduldig
und aufmunternd. Das Üben macht mir Spaß. Meine Eltern sagen, ich
habe einen „schönen Anschlag“. Das trägt mich darüber hinweg,
wenn ich mein Geklimper manchmal selbst nicht mehr hören kann. Tante
Eila, die Schwester meiner Mutter, die seit einigen Jahren bei uns
wohnt, - sie ist aus der „Ostzone“ gekommen - schimpft ein
bisschen, wenn ich Fehler mache.Tante Eila sitzt nachmittags in ihrem
Zimmer und erledigt eine umfangreiche Korrespondenz. Sie schreibt
unaufhörlich Briefe an ihre Freundinnen in Borsdorf bei Leipzig und
anderen Orten. Außerdem pflegt sie die Kontakte zur Verwandtschaft
in Übersee, Argentinien, USA und Schweden.
Dann
bekomme ich eine neue Lehrerin, die ungeduldig ist und mürrisch.
Gleich sinkt meine Begeisterung und Ausdauer um einige Stufen, bis
ich, nach zwei Jahren, aufgebe. Meine Eltern sind verständnisvoll
und wollen mich nicht zwingen.
Hätte
ich weitergemacht, wenn sie mir Mut gemacht hätten?