Donnerstag, 14. November 2013

Kleidertanz

Die Neubearbeitung von "Schnittmuster" in zwei Bänden ist da:

1. Band
Kleidertanz


weitere Infos

Freitag, 16. August 2013

Rest-Exemplare zu verschenken!

Es bleiben noch ein paar Exemplare der 1. Auflage übrig, ich verschenke sie an euch solange der Vorrat reicht, schickt mir eine Mail an  anna_hoelscher@web.de.
Viele Grüße
Anna

Samstag, 2. Februar 2013

Wer noch weiterlesen möchte...

Das waren die Kapitel zum Reinschnuppern. Wer noch weiterlesen möchte und einen Kindle o.Ä. hat,
hier gibt's die Kindle-Version für 2,68€ zu kaufen.
Ansonsten hier noch ein paar Rest-Exemplare der 1. Auflage.
Das Buch befindet sich in Neubearbeitung zur 2. Auflage und wird demnächst erscheinen.


Samstag, 20. Oktober 2012

5. Kapitel Das hellblaue Kleid



Zeitlupe:

Meine Kleidung bekomme ich, wenn sie nicht von der Schneiderin genäht wird, aus dem Großhandel. Ich weiß nicht, wie meine Eltern zu einem Berechtigungsschein gekommen sind, jedenfalls gehen wir immer dorthin zum Einkaufen. Die Sachen sind nicht besonders modisch, nur einmal hab ich eine Lastexhose mit Keil erstanden, als der Keil schon unmodern ist. aber sie ist hellbeige und auffällig schick. Dazu gibt es eine knallblaue, mohairartige Winterjacke, bzw. Kurzmantel. Da das Schneidern zu teuer wird und ich die Schnitte auch nicht schick genug finde, fasse ich irgendwann kurzerhand den heroischen Entschluss, mir selbst ein Kleid zu nähen. Etwas waghalsig, da meine Handarbeitskünste in der Schule nicht sehr erfolgreich sind. Ich habe es zu einer akzeptablen Schürze gebracht und ein paar völlig verwurschtelten Strick- und Häkelarbeiten. Sticken wiederum mag ich ganz gern, schon allein wegen der schönen bunten Muster, die auf dem Stoff entstehen. Irgendwie entwickele ich plötzlich den Ehrgeiz, nicht auf ewig als unauffälliges Gänseblümchen durchs Leben zu gehen. Ich möchte auffallen und schön sein.
Ob es die sprießenden Hormone sind oder nur ein gigantischer Wutanfall, aus dieser Enge, der vorbestimmten Weiblichkeit, zu entfliehen. Weiblich, das scheint ein Synonym für Hausfrau, brav, angepasst, ohne Bewegungsfreiheit. Schminken ist zu gefährlich. Ich hebe innerlich ab, verwandele den Wutanfall, der mir irgendwie nicht passt, in , ja , in – Flucht, Flucht in die Bücher ist es nicht mehr, es muss mehr sein, etwas anfassen können, gestalten. Also hebe ich innerlich ab auf ungefähr 10 Meter über dem Erdboden, lasse alles Bedrückende, Düstere, Schwere, alle Verbote, böse Worte und Blicke, auf den Boden sinken. Ich lerne fliegen.
Take off: der Weg in den Stoffladen, aussuchen, anfassen, das Auge isst mit. Schnittmuster aussuchen, Garn, Reißverschluss, ab nach Hause! Dann, während des Fluges: Schnitt ausradeln, ausschneiden, auf den Stoff legen, befestigen, zuschneiden zusammenheften, anprobieren, nähen. Alles ohne Turbulenzen, bei schönstem Wetter, sprich, bester Laune, der Jungfernflug. Landung vorbereiten: Den Gürtel machen lassen, alles anziehen, Landung geglückt, Applaus für die Pilotin. War zwar kein sehr hoher Flug, am Boden noch alles im Blick gehabt, aber, jetzt, Betreten des Neulands. Beim Verlassen des Flugzeugs weht der Rock, ist da unten nicht ein roter Teppich?
Ich nehme an einem Austausch nach Schweden teil und das hellblaue Kleid mit. Tiia, meine Austauschpartnerin stiehlt mir zwar trotzdem die Show bei Tanzveranstaltungen, weil sie sehr blond und sexy aussieht, aber letztlich gibt mir der Erfolg einen enormen Anschub, es nun weiter zu versuchen. Plötzlich kriege ich auch Rückenwind von meinen Eltern, die diese neu aufgetauchte Tugend unterstützen. Meine Mutter bewundert mich dafür, meint, ich hätte das Talent meiner Urgroßmutter Anna Tetzlaff geerbt, die sogar Uniformen nähen konnte, ihre acht bis zehn Kinder rundum benäht hatte nebst der Tatsache, dass sie all ihre Kinder ein Jahr lang gestillt haben soll.
Also habe ich doch endlich ein weibliches Pfund, das mir gefällt, mit dem ich wuchern kann, zwar ein ererbtes, aber immerhin. Danke dafür, liebe Anna Tetzlaff! Zum Ausgleich dazu sind mir, wie gesagt, alle Hausarbeiten ein Gräuel, kochen, einkaufen und putzen. Den „Handarbeiten“ wie nähen, stricken und häkeln kann ich eine Menge abgewinnen, da sie mich, unter anderem, auf direktem Wege dem begehrten männlichen Geschlecht näher bringen.

Ich trage eine Kurzhaarfrisur, sehe ein bisschen wie ein Junge aus. Es gefällt mir sehr gut in Hälsingborg. Die Eltern meiner Austauschpartnerin sind Esten. Sie sprechen zu Hause estisch. Die Großmutter spricht noch deutsch. Meine Freundin Tiia spricht auch sehr gut deutsch. Wir fahren nach Helsingör in Dänemark zum Tanzen, setzen mit dem Schiff über. Ich habe mein hellblaues Kleid an. Wir gehen in ein Tanzlokal. Tiia wird sofort zum Tanzen aufgefordert. Ich sitze ein wenig schüchtern und vielleicht auch ein wenig abweisend da. Das blaue Kleid kommt mir jetzt doch etwas kindlich vor. Tiia sieht viel damenhafter und älter aus. Dabei sind wir beide sechzehn. Trotzdem finde ich es toll, was wir hier alles unternehmen. Der Sommer ist schön, wir gehen jeden Tag in eine Badeanstalt. Das Schönste sind die Sandwiches, die wir mitbekommen. Brote mit Salatblättern, Fleisch oder Käse und Remoulade. Einmal gibt es abends ein großes Essen mit Familie und Verwandten. Ein großer Fisch mit entsetzlich vielen Gräten liegt auf meinem Teller. Vor lauter Gräten kann ich kaum etwas essen. Danach, abends spät, gibt es Torten und Kaffee. Ich bin beeindruckt.
Tiia und ich fahren nach Kopenhagen und besuchen das Tivoli, den Freizeitpark. Wir lernen zwei attraktive deutsche Jungen kennen. Einer hat schwarzes Haar, den mag ich gern, Tiia den Blonden. Es macht Spaß, mit den Jungen durch’s Tivoli zu streifen. Es gibt ein Jazzfestival in der Umgebung von Hälsingborg. Auf einer großen Wiese stehen Buden und Bühnen. Man kann sich ganz gut verlaufen. Gibt es so was in Deutschland überhaupt? Jazzfestivals? Ich hab noch von keinem gehört. Das ist hier alles supermodern!

Hinter den Spiegeln

Sie sitzt in unserer Küche, in unserer kleinen Fünfziger –Jahre- Sozialer Wohnungsbau Neubau – Küche und liest einen Brief. Sie – ist ein junges Mädchen mit altmodischen Zöpfen und einem sehr altmodischen Kleid. Sie kichert laut und ausgelassen. Hallo, wer bist du? Frage ich sie. Ich? Ich bin Bibi, Die Heldin aus den Büchern von Karin Michaelis. Bibi? frage ich ungläubig, ich kenne nur Pippi Langstrumpf. Ja, das ist meine kleine Schwester, oder halb oder viertel Schwester oder so was. Ich hab sie nie gesehen, hab aber von ihr gehört. Sie soll mir ziemlich ähnlich sein. Ich lese gerade einen Brief von meiner Freundin Valborg, die gerade in Frankreich ist, hör mal: „……Da bekam Monsieur plötzlich einen Rappel und wollte fein sein. Er zog zur Stadt mit seiner Pompadour, und wir anderen sollten uns wie zu einer feinen Gesellschaft umkleiden. Angèle und ich stürzten uns auf die Kisten mit feinen Kleidern, die wohl auch zur Erbschaft gehörten. Wir wühlten so lange darin herum, bis wir ein paar Prachttoiletten mit Fischbein und allen möglichen Kinkerlitzchen fanden. Madame besitzt noch einige Kleider, die das Tageslicht nicht zu scheuen brauchen, sie brauchte also nichts von dem Zeug. Angèle beschäftigte sich eine geschlagene Stunde lang mit meiner Frisur, dann schmierte sie mir so viel Creme ins Gesicht, dass die Sommersprossen darunter begraben wurden. Sie zog mir die Augenbrauen hoch und legte Rouge auf die Lippen, der Mund wurde so ungeheuer, dass ich meine eigene Urgroßmutter hätte verschlingen können. Natürlich auch noch ein paar rote Kleckse auf die Backen und etwas Blau auf die Lider, das macht nämlich besonders interessant. Seidenschühchen, spitz wie Nähnadeln und mit Absätzen wie Champagnerpfropfen. Hier kannst du sehen, wie sie mich ausstaffiert hat und wie ich aussehe, wenn ich ich selber bin.“
Bibi ist plötzlich verschwunden, aber das Buch liegt noch da. Ich schaue mir die lustigen Zeichnungen an und schaue auf den Deckel. Bibi und ihre Freundinnen, von Karin Michaelis, steht da, und auf der zweiten Seite: Karin Michaelis, Schriftstellerin, Journalistin und Mädchenbuchautorin (1872 -1950). Ich blättere weiter und fange an zu lesen.
Vor dem Spiegel schneide ich Grimassen. In einem Mädchenbuch, das ich von meinen Eltern bekommen habe, steht, dass der Spiegel uns dienen soll, aber nicht beherrschen. Ich drohe meinem Spiegelbild mit dem Zeigefinger: Du bist mein Diener, verstanden! Dann fange ich vergnügt an zu kichern. Der Diener kichert zurück.

Dienstag, 9. Oktober 2012

Der enge kurze Rock


Zeitlupe
Ich bin jetzt 13 Jahre alt, liebes Tagebuch. Ich habe meine „Tage“ bekommen, stell dir vor. Juhu!! Und Seidenstrümpfe und meinen ersten engen Rock! Die Schneiderin, die näht mir: ein anthrazit -farbenes Kostüm mit großem Kragen und weitem Rock , dann noch ein dunkelrotes Kostüm mit ausgestelltem Rock! Der enge Rock ist gestreift, mit lila, grauen und anthrazitfarbenen Streifen. die Seidenstrümpfe dazu, mit Strumpfhaltern befestigt. Ist das nicht toll, Tagebüchlein? Freust du dich? Die „ Periode“ ist schon blöd, um nicht zu sagen peinlich, einfach – nur- peinlich! Wenn man das sieht!! Beim engen Rock, die dicken Binden!!“
Ich habe zwei gute Freundinnen und bin schon neidisch gewesen, dass mir eine zuvor gekommen ist. Zu meiner Erleichterung bin ich dann immerhin schneller als die Dritte. Plötzlich werden die Jungen interessant, und, scheinbar von einem Tag zum anderen, erscheinen mir manche hübscher und anziehender als andere. Jetzt macht es mir plötzlich etwas aus, neben meiner attraktiven großen Schwester her zu gehen und keine, nicht die geringsten Blicke junger Männer auf mich zu ziehen. Ich falle, von den Größen - und Abenteuer Phantasien der Elfjährigen zum unbedeutenden Dasein einer Dreizehnjährigen. Ich fühle mich wie weder Fisch noch Fleisch, zwischen Baum und Borke. Ich hoffe auf die Zukunft. Werde ich hübsch genug werden? Meine Schwester ist blond.
Tolle Filmschauspielerinnen sind auch meistens blond. Marilyn Monroe z.B., mit der ich kaum einen Film gesehen habe. Ich entdecke Audrey Hepburn und erkläre sie zu meiner Retterin. Sie ist dunkelhaarig wie ich, zart, feenhaft, träumerisch. Auch manchmal geistreich und frech, eigentlich sehr vielseitig. Und, vor allen Dingen, hat sie etwas Kindliches. So darf sie also sein, auch wenn sie dem Alter nach schon heiratsfähig ist.
Der enge Rock gefällt mir eigentlich nicht so sehr, zumal er nur eingeschränkte Bewegungsfreiheit zuläßt. Aber vielleicht ist es genau das, was ich im Hinterkopf habe: Frauen dürfen sich nur gemessen bewegen, dürfen nicht überschwänglich sein, von Leben und Gefühlen strotzen. Ich gerate in die Nähe meiner Mutter, ihrer Rolle als pflichtbewusste Ehefrau. Meine Mutter ist schon in den Wechseljahren und leidet unter den Mühen des Alltäglichen. Ihre Schwester Eila hilft kräftig bei der Hausarbeit, macht die „grobe“ Arbeit, putzen und waschen. Meine Mutter kocht und kauft ein. Da mein Vater nicht in der Lage ist, ihr zu helfen, werden Getränke usw ins Haus gebracht. Trotz dieser Hilfen wirkt meine Mutter gehetzt. Sie fällt in dieser Zeit auch manchmal vom Fahrrad.
Meine Mutter wird noch wortkarger zu mir, nachdem ihr Beitrag zur Aufklärung meinerseits ein paar grässliche katholische Broschüren sind, die ich als Zumutung empfinde und unter meiner Würde. Ich traue mich aber nicht, es anzusprechen.
Ich toupiere mir die Haare , trage einen blassen Lippenstift auf und biege meine Wimpern mit einer Wimpernzange geduldig hoch, aber auf Familienphotos sehe ich nicht gerade glücklich aus, eher traurig und ein wenig trotzig. Das Leben ist mir noch vor ein, zwei Jahren abenteuerlich und voller Bewegung vorgekommen, jetzt ist es kurz und eng geworden. Ich komme mir lächerlich vor und irgendwie dumm.

Trevira“ heißt der Stoff. Er ist glatt und fühlt sich trotzdem weich an. Ein zarter Glanz liegt darüber. Ich befühle ihn. Es ist ein supermoderner Stoff, künstlich hergestellte Chemiefaser, mit keiner Naturfaser vergleichbar. Modern, das heißt für mich neu, interessant, besonders, auffallend. Breite Streifen verlaufen von oben nach unten. Die Farben finde ich schick, irgendwie elegant. Ich probiere ihn an. Er ist knie kurz und sitzt eng auf der Hüfte. Eine Falte am unteren rückwärtigen Teil lässt ein wenig Beinfreiheit zu. Damit fühle ich mich gleich ein paar Jahre älter. Endlich! Ich bin stolz, gehöre jetzt ein wenig mehr zu den Erwachsenen.
Das Gehen ist gewöhnungsbedürftig. Man muss kleinere Schritte machen. Außerdem gehören unbedingt Nylonstrümpfe dazu, und Pumps, mit kleinen Pfennigabsätzen, oder Ballerinas.
Ich gehe ein paar Schritte, hab ein wenig Angst. Schon sehr neu, dieses Gefühl. Mir fehlt die Bewegungsfreiheit. Ich bin wütend. Muss ich jetzt immer so bescheuert mit kleinen Trippelschritten gehen, nur um dazu zu gehören und den Jungen zu gefallen?


Keine Musik? Keine Bücher?

Sicher hab ich immer noch viel gelesen, Bücher, die im Jung-Mädchen-Kalender „heute, morgen, übermorgen“ der Zeitschrift „Brigitte“ empfohlen wurden, Cili Wethekam und Mary Stolz. Darin geht es schon um erste Liebe, Enttäuschung, erwachsen werden. Ein Buch ist: Liebe hat Zeit, von Mary Stolz. Dort geht es um Probleme des erwachsen Werdens, erste Liebe, Teenager-Bösartigkeit. Das Buch trifft schon den richtigen Ton. Es spricht mich an. Meine Mutter schenkt mir einen Sammelband „Blühendes Leben“, ein wirklich gut gemeintes „Buch für Mädchen von heute“, mit einem Foto von einem hübschen strahlenden blonden jungen Mädchen mit einem Obstkorb im Arm. Obst und Gemüse. Eigentlich sieht sie wie ein perfektes „Deutsches Mädel“ aus, allerdings geschminkt, aber dezent. Und schon eine werdende Hausfrau, oder was soll der Obstkorb symbolisieren? Die „Fülle der Natur“? Dann könnte sie doch auch mitten in einer Blumenwiese sitzen oder so. Geschichten der Weltliteratur, wirklich liebevoll gestaltet und gut gemeint mit viel Verständnis für die Irrungen und Wirrungen der Jugend. Aber irgendwie mag ich das Buch nicht, es ist mir zu schwer. Vielleicht auch zu pädagogisch. Eine Welt, die da aufgeblättert wird, die man aber lieber erstmal, peu a peu, selber entdecken möchte und daraus eine eigene Kultur entwickeln, unvollkommener, freier, frecher. Blödsinn machen, über die Stränge schlagen, albern sein.
Ich klappe das Buch zu und ab damit ins Regal.
Manchmal hole ich mir Bücher aus dem Bücherschrank meines Vaters. Aber insgesamt wird es auch hier enger, die Phantasie streikt und schmollt.

Musik? Was gab es? „Speedy Gonzales“ , Rock’n Roll, Twist. Elvis war irgendwie peinlich, schmalzig.

Love me tender“
Nee, von so einem möchte ich nicht geliebt werden. Was der mit Mädchen vorhat, dafür bin ich noch viel zu jung. Erstmal nur Blicke werfen, sich unterhalten, vielleicht mal ein Kuß.
Elvis ist viel zu heftig. Kann ich mir alles noch gar nicht vorstellen. Ist auch nicht mein Typ.
Dabei ist Rock’n Roll schon toll. Das Tanzen, die Musik: temperamentvoll, amerikanisch, bringt ein super Lebensgefühl in unsere etwas verklemmten Beziehungen zum anderen Geschlecht. Beim Tanzen haben wir viel Spaß und können befreit lachen.

Hinter den Spiegeln

Ich betrete einen großen Saal. Sie sitzt in einer Ecke vor einem Flügel und spielt eine Sonate von Mozart. Ich trete an den Flügel, stütze mich mit einem Ellenbogen darauf und schaue sie traurig an. Sie spielt noch ein wenig weiter, hört dann auf und schaut mich an.
Sie lacht. „Was ist? Was ist dir über die Leber gelaufen? „ „Ich will nicht erwachsen werden. Es ist ungemütlich und blöd. Aber Kind bleiben will ich auch nicht, dann werde ich wie ein Baby behandelt. Das ist genau so schrecklich.“
Sie lacht wieder. „Stell es dir doch einfach so vor: Du kannst jetzt beides. Du darfst noch ausgelassen sein und alles tun, was ein Kind möchte, und gleichzeitig kannst du ausprobieren, wie es ist, erwachsen zu sein. Keiner wird dir das eine oder andere übel nehmen. Spiel doch einfach damit“
Ich schaue sie erstaunt an: „Spielen? Dann halten mich doch alle für verrückt und nehmen mich nicht ernst.“
Ach, Blödsinn, das versteht jeder. Schließlich waren sie alle mal in deinem Alter. Nimm es nicht so ernst, so lange du noch unsicher bist. An einem Tage bist du eine elegante Dame und am anderen Tag die freche Göre“ „Oh ja, Pippi Langstrumpf oder Eva-Lotte und dann Conny Froboess und Audrey Hepburn.“
Ich tanze verklemmt quer durch den Saal in mein Zimmer und probiere verschiedene Posen aus, die mittendrin abbrechen.Mein Spiegelbild versteckt sich.


Mittwoch, 3. Oktober 2012

Das weiße Kleid

Das weiße Kleid


Zeitlupe
Als ich etwa zehn Jahre alt bin, bekomme ich ein weißes, luftiges Sommerkleid. Es ist mit Schrift bedruckt und erinnert mich an Zeitungen, Zeitschriften und die große weite Welt. Wir haben Verwandte in Übersee, Amerika, Argentinien, Schweden. Das Kleid wirkt brav und gleichzeitig hübsch, luftig, hat einen schwingenden Rock. Oben mit einem kleinen Kragen eng geschlossen, kurze, angeschnittene Ärmel, weist es frisch, frech und keck in die weite Welt. Ich bin stolz und glücklich damit. Noch keine Frau, die Brust flach und der Kragen hochgeschlossen, aber knie kurz, läßt es meine Beine frei und der Rock hat Schwung und gibt meiner Bewegungsfreude genügend Raum. Die Freude kurz vor dem Ausbruch der Weiblichkeit, noch ungehindert von allem, was Angst machen könnte. Gefühle wie der Wind . Du kannst in die Welt hinaus laufen und wirst trotzdem geliebt und fühlst dich zugehörig, welch eine Aussicht auf’s Leben, das sich vor mir ausbreitet . In der Schule fange ich an, eine Schülerzeitung zu schreiben, bekomme auch ein paar Exemplare zustande, mit Artikeln und Rätseln.
Nach der Schule, nach dem Mittagessen und den Hausaufgaben, setze ich mich hin und tüftele an meiner Zeitung herum. Nach dem Muster der Fortsetzungsromane in der Tageszeitung will ich auch einen Roman schreiben. Mit großem Elan fange ich an, gebe aber nach einigen Seiten auf. Mein Bruder Michael macht seinen Bundeswehr Dienst bei der Marine. Er trägt bei seinen Aufenthalten zu Hause eine todschicke weiße Uniform, schreibt Karten aus Spanien, Cadiz, z.B. Ich sammle die Briefmarken, hab schon eine große Sammlung an Briefmarken, die ich von den Briefen der Verwandten aus Südamerika, Nordamerika und Schweden mit Wasserdampf ablöse. Es gibt so Vieles, was ich jetzt schon kann, durch die Briefmarken kommt die weite Welt zu mir, ich lese und lese und lese, jetzt auch schon mal Karl May oder Lederstrumpf und andere Abenteurer-Klassiker der ganzen Welt. Auch Asien, Indonesien sind die Schauplätze meiner Lektüren. Ich bekomme einen Brieffreund aus Japan.Mit ihm korrespondiere ich einige Jahre lang, in großen Abständen. Und dann das Schreiben und die Versuche einer Zeitung. Ich schwelge in dem Gefühl, was ich später alles machen kann, wenn ich groß bin. Erstmal will ich Stewardess werden. Im Flugzeug.

Wenn das mein großer Bruder wüsste
Zu der Zeit des weißen Kleides verbringe ich meine Sommerferien auf dem Land bei Verwandten, und mit meiner Cousine höre und singe ich Schlager von Conny Froboess und Peter Kraus. Ich liebe die helle Stimme von Conny, etwas frech und knabenhaft. „Wenn die Conny mit dem Peter“, und “Wenn das mein großer Bruder wüsste“. Wir singen die Lieder draußen und drinnen, inszenieren Auftritte und spielen in der Phantasie schon erste Verliebtheiten durch.
Meine Brüder hören Jazz „Papa Bue’s Viking Jazz Band” und Chris Barber „White Christmas“, und „When the Saints go marching in“.


Die Verunsicherung und die schmerzlichen Peinlichkeiten der Pubertät noch nicht kennend, ein Vogel, der lernt zu fliegen, und sich an seinen ersten Flugversuchen und Fortschritten berauscht, nichts hemmt seinen Flug. Oder doch? Als Kind bin ich oft krank, langweile mich im Bett und fühle mich einsam, schlapp und schwach, aber Gott sei dank geht es immer wieder bergauf. Meine Mutter pflegt mich, bringt mir zu essen und zu trinken, den Vater sehe ich nicht so oft. Er schaut mal herein und sagt: „ Na, du krankes Hühnchen!“ Meine Mutter, oder mein Vater oder meine Geschwister kommen nicht auf die Idee, sich mit mir zu beschäftigen, mir vor zu lesen, wenn ich krank bin. Da helfen nur die Bücher, die ich selbst lese, sobald es mir besser geht. Meistens Abenteuer-Bücher von Enid Blyton: „Die See“, „der Berg“, „die Insel der Abenteuer“. Die „Fünf Freunde...“ Serie und „das Geheimnis um... “. Eine Gruppe von Kindern klärt Verbrechen auf, in teilweise abenteuerlichen Landschaften. Am Meer, in Ruinen, Höhlen, im Gebirge. Die weite Welt kommt herein, die Kinder sind befreundet, halten zusammen, haben viel Spaß und erleben aufregende Abenteuer, aus denen sie, am Ende, natürlich unversehrt herauskommen. In der Bücherhalle sind diese Bücher meistens ausgeliehen, manchmal habe ich Glück. So ein Buch zu Weihnachten zu bekommen, ist ein Luxus, denn sie sind teuer.
Sorge für’s leibliche Wohl ist selbstverständlich. Andere Wünsche bleiben verborgen. “Das Wasser war viel zu tief“ heißt es in dem Lied „Es waren zwei Königskinder“, das mir meine Mutter vorsang, als ich so vier, fünf Jahre alt war.

Bei den Ursulinen im Gymnasium habe ich gemischte Gefühle. Die Mathematik – Schwester Beatrix ist sehr dynamisch und temperamentvoll und ich fühle mich von so viel Energie etwas eingeschüchtert. Unsere Klassenlehrerin ist weltlich und verheiratet. Sie mag mich, wie sie meiner Mutter beim Elternsprechtag sagt, weil ich so schöne Phantasiegeschichten aus drei Wörtern schreiben kann. So eine Tochter wie mich hätte sie auch gern. Ich bin Zweitbeste in der Klasse, hab lauter Zweien. Mit der Erstbesten, die lauter Einser vorweisen kann, werde ich zur Einweihung des neuen katholischen Erzbischofs geschickt, Ich bin stolz .
In der 7.Klasse fange ich an, mich im Unterricht zu langweilen. Ich halte ausgedehnte Schwätzchen mit meiner Mitschülerin und reagiere trotzig, wenn Frau T. mich ermahnt. Ich falle in Ungnade. Wir wollen ein Theaterstück aufführen, ein Märchen. Jetzt bin ich mit Begeisterung bei der Sache. Die Prinzessinnenrolle kann ich auswendig und ich habe im Gefühl, dass ich sie bekomme. Sie ist mir sozusagen auf den Leib geschrieben. Das findet meine Klassenlehrerin zwar auch, aber sie gibt mir die Rolle nicht, um mich zu strafen. Ich bin wütend und enttäuscht über meine Lehrerin. Ich bekomme keine Sprechrolle und muss einen Hasen spielen. Ich soll gedemütigt werden. Jetzt hab ich keine Lust mehr zur Schule. Ich lass mich hängen und schleppe mich bis zur achten Klasse. Dann bleibe ich sitzen, schon aus Trotz und zur Provokation meines Vaters, der mich dennoch für intelligent genug hält.
Seine Reaktion finde ich gut, auch wenn sie nicht ganz den Tatsachen entspricht. Er murmelt so etwas wie: „Die Nonnen haben dich nicht richtig verstanden …“ und schickt mich auf eine weltliche Schule.


Hinter den Spiegeln
Ich springe Seil auf der Wiese, schneller, immer schneller. Erschöpft halte ich inne und schaue mich um. Das Haus betrete ich durch die angelehnte Tür. Links, im Salon, sitzt sie und liest. Ich schaue vorsichtig in das Zimmer herein. Komm herein! sagt sie ruhig. Ich setze mich in einen Sessel. Mein Blick fällt auf einen Leuchtglobus, der auf dem schweren Eichentisch steht. Ich drehe vorsichtig daran und schaue auf die Länder und Kontinente.
Argentinien, sage ich, wo ist das? Weißt du, in welchem Kontinent es liegt? Ja, freue ich mich, in Südamerika. Ich hab’s schon. Buenes Aires ist die Hauptstadt. Da hab ich Verwandte. Sie haben uns Pakete geschickt, als ich noch sehr klein war. Mit leckerem Milchpulver und so etwas wie Caramel. Das hab ich noch nie gegessen vorher. Und einmal haben sie uns besucht und für uns alle eine Kutsche bestellt. Mit der haben wir einen langen Ausflug auf’s Land gemacht.
Weißt du denn, wie es in Argentinien aussieht? Ich glaube, da ist alles ganz groß und weit. Meine Verwandten haben zwei Landgüter, auf denen Wein wächst. Durch ein Weingut fließt ein Fluss. Da ist alles viel größer als hier.
Ich betrachte mein Kleid und die Schrift auf dem Stoff, streiche über meinen Rock. Oh, darüber könnte ich ja mal in meiner Zeitung schreiben. Dann hab ich ein Kapitel: Aus der weiten Welt!
Sie lächelt zustimmend. Erzähl doch mal von Argentinien!
Meine Tante Eila war vier Jahre in Argentinien. Sie hat zwei ihrer Schwestern begleitet, weil die sehr krank waren, Tuberkulose. Sie brauchten Wärme.
Sie ist mit ihrem Bruder mit dem Schiff gefahren. Auf dem Schiff hat sie den Leuten erzählt, ihr Bruder sei ein Jude, weil er so eine Hakennase hatte. Damit hat sie sich die Zeit vertrieben. In Buenos Aires wollte sie spanisch lernen und hat versucht, sich mit den Marktfrauen zu unterhalten. Das hat ihre Schwester ihr verboten. Sie sollte nicht mit den Marktfrauen sprechen.
Zu uns hat sie immer abends gesagt „A hora me voi, und buenas noches“, das heißt, glaube ich „Ich gehe jetzt und: gute Nacht“. “
Ich fühle mich jetzt wohl und munter, möchte dennoch zurück, nach Hause. „Ich sage jetzt auch „a hora me voi“
Sie steht auf, lächelt mir zu, sagt: Bis zum nächsten Mal! und geht aus dem Salon.
Vor dem Spiegel kneife ich ein Auge zu und laufe nach draußen, um Ballprobe zu spielen.


Zeitlupe

Das weiße Kleid und die Begeisterung, die damit einhergeht, verliert allmählich seinen Zauber. Langsam und scheinbar unbemerkt schleicht sich eine Angst ein, die meine kurz aufgeflammte unbändige Bewegungslust hemmt. Angst ist schon lange meine Begleiterin. Jetzt verändert sie ihr Gesicht.
Frau T. knallt das Klassenbuch auf und zu. Ihre Schwangerschaft ist nicht mehr zu übersehen.
Neuerdings hat sie schlechte Laune, hält uns Moralpredigten. Wir dürfen keine langen Hosen tragen ohne einen Rock darüber, manchmal vergesse ich den Rock, weil ich es so grässlich finde, den Rock über der Hose. Auf der Toilette ziehe ich mich um. Man sieht es dann nicht, wenn ich einen langen Mantel darüber trage.
Beim Sport müssen wir Röcke tragen über dicken blauen Pluderhosen. Manchmal provozieren wir und erscheinen in den schicken, engen und sehr kurzen Stretchhosen. Dann dürfen wir nicht mit turnen.
Ich verstehe nicht, was sie will. Sie hat gesehen, dass sich ein oder zwei Mädchen von der Schule haben abholen lassen, von Jungen. Das Jungengymnasium Carolinum und unsere Schule sind durch eine hohe Mauer getrennt. Man kann nicht darüber schauen.
Was ist schon dabei? Sie sagt nicht, warum es ihr nicht passt. Tobt nutzlos herum.
Sollte sie sich nicht freuen, jetzt, wo sie ein Kind bekommt? Oder ist das so schrecklich?
Ich bin wütend, dass sie auf so unverständliche Weise schimpft. Auch enttäuscht. Ein bisschen ähnelt sie einer bösen Fee.
Meine Achtung vor ihr sinkt.
Ich lerne jetzt Klavier spielen, habe eine sehr nette Lehrerin, geduldig und aufmunternd. Das Üben macht mir Spaß. Meine Eltern sagen, ich habe einen „schönen Anschlag“. Das trägt mich darüber hinweg, wenn ich mein Geklimper manchmal selbst nicht mehr hören kann. Tante Eila, die Schwester meiner Mutter, die seit einigen Jahren bei uns wohnt, - sie ist aus der „Ostzone“ gekommen - schimpft ein bisschen, wenn ich Fehler mache.Tante Eila sitzt nachmittags in ihrem Zimmer und erledigt eine umfangreiche Korrespondenz. Sie schreibt unaufhörlich Briefe an ihre Freundinnen in Borsdorf bei Leipzig und anderen Orten. Außerdem pflegt sie die Kontakte zur Verwandtschaft in Übersee, Argentinien, USA und Schweden.
Dann bekomme ich eine neue Lehrerin, die ungeduldig ist und mürrisch. Gleich sinkt meine Begeisterung und Ausdauer um einige Stufen, bis ich, nach zwei Jahren, aufgebe. Meine Eltern sind verständnisvoll und wollen mich nicht zwingen.
Hätte ich weitergemacht, wenn sie mir Mut gemacht hätten?









Mittwoch, 26. September 2012

Die rote Strickjacke


Die rote Strickjacke





Zeitlupe:

Anfang der Fünfziger ist Weihnachten eine Zeit gemütlicher Häuslichkeit. Stollen und Spekulatius backen, hausgemachte Sülze aus Kalbfleisch zubereiten, alle helfen mit. Weihnachtslieder singen , ich als Jüngste muss ein Gedicht aufsagen.
Im Radio hören wir klassische Musik, besonders sonntags.Vor dem Mittagessen oder auch beim Essen. Symphoniekonzerte. Die Musik hat etwas Feierliches, Besonderes, ist die Krönung des Sonntagsessens.
Das erste Buch, das ich nach einem halben Jahr Schule lese, ist ein Märchen. „Prinzessin Huschewind“, von Fritz Peter Buch. Die Prinzessin tollt den ganzen Tag umher, durch die Natur, singt und tanzt und freut sich des Lebens. Da das Prinzesschen aber auch etwas lernen soll, bestellt der König einen strengen Hofmarschall, der Huschewind aus Wut verwünscht und sie verdammt, so lange auf ihrem Stuhl sitzen zu bleiben, bis der Wald zu ihr herein kommt. Da sitzt sie nun, die Arme, aber ihre Freundin, das arme Köhlerkäthchen, besteht einige Abenteuer, bis endlich (zu Weihnachten) das „Tannenfräulein“ in Gestalt des Weihnachtsbaums in die Stube kommt. So eine schöne Geschichte!!! Auch ich muss schreckliche Tage auf einem Stühlchen sitzen, weil ich heißen Tee auf meine Oberschenkel geschüttet habe und ausgerechnet an sonnigen Pfingsttagen nicht laufen kann.
Einen strengen Hofmarschall gibt es nicht, aber die Atmosphäre zu Hause ist so, dass ich gar nicht auf die Idee komme laut zu sein oder herum zu tollen. Mein Vater sitzt im Wohnzimmer am Schreibtisch, liest Krimis oder korrigiert Schülerarbeiten,

Das erste Kleidungsstück, verbunden mit einem besonderen Ereignis in meinem Leben, ist eine bunte Strickjacke, die ich zur Einschulung bekomme, 1953, im März wahrscheinlich. Ich bin fünf Jahre alt, werde im Mai sechs, und soll ab Ostern zur Schule gehen. Ich fühle mich wie eine Prinzessin. Meine Mutter geht mit mir einkaufen, etwas Schönes zum Anziehen, eine knallrote Strickjacke, das ist wie Geburtstag und Weihnachten zusammen.
Meine Mutter hab ich für mich allein bei Spaziergängen im botanischen Garten, als ich noch drei, vier Jahre alt bin, wir freuen uns gemeinsam über Blumen, Stiefmütterchen im Mai, meinem Geburtsmonat, über die ersten Frühlingsblumen, zwischendurch auf den Beeten noch ganz viel schwarze, frische Gartenerde. Gänseblümchen und Löwenzahn auf dem Trümmergrundstück hinter dem Haus, indem wir eine herunter gekommene Mietwohnung haben. In dem kleinen Zimmer, in dem meine Schwester und ich schlafen, ist die Tapete teilweise abgerissen und hängt herunter. Der jüngste meiner Brüder schläft im Badezimmer, einem Zimmer mit einer Badewanne mittendrin.

Ich sehe mich an der Hand meiner Mutter oder auch, da ich ja nicht mehr so ganz klein bin und schon bald zur Schule gehen soll, hinter ihr her laufen. Sie hat es eilig.
Ich bin aufgeregt und freue mich. Ich freue mich auf die Schule. Es wird mir langweilig, jeden Tag mit den Nachbarskindern zu spielen. Sie sind jünger als ich. Es ist kein Mädchen in meinem Alter dabei. Ein älteres Mädchen aus dem Haus lässt mich zuschauen, wenn sie zeichnet. Ich zeichne nicht gern. Also schenkt sie mir ihre Zeichnungen. Sie schreibt dazu Texte und bindet die Seiten zu einem wunderschönen Heft. Sie macht es auch für mich. Ich schenke so ein Heft meinen Eltern zu Weihnachten, fühle mich aber nicht sehr wohl dabei. Ich schäme mich, dass die Zeichnungen nicht von mir sind. Hab ich selbst denn nichts zu bieten? Meine Zeichnungen sind sehr ungelenk – außerdem haben wir schon einen Zeichner im Haus, meinen Bruder Franz. Aber es macht Spaß, mit ihr zusammen zu sitzen und Weihnachtsgeschenke herzustellen.
Einmal erzählt das Nachbarmädchen mir auf einem langen Spaziergang deutsche und griechische Sagen,. Ich bin verzaubert. Sie erzählt spannend. Wir gehen durch etwas verwilderte Gegend, durch einen Wald. Ich höre zu und versinke in den dramatischen Geschichten aus alten Zeiten.
Nun ist mit der Schule meine Zeit zur Veränderung gekommen. Ich bin neugierig auf das Lernen in der Schule, begierig und voller Vorfreude. Was wird mir Spannendes und Aufregendes passieren oder welche Geschichten werde ich hören?
Meine Mutter geht schnell. Ich versuche ihr zu folgen, vorbei an etwas heruntergekommenen Altbauten und noch einigen Ruinen, die vom Krieg übrig geblieben sind. Anfang der Fünfziger ist noch fast jedes zweite Haus eine Ruine oder irgendwie beschädigt, jedenfalls in meiner Erinnerung. Die meisten Häuser sehen grau und schäbig aus. Doch der Aufbruch liegt in der Luft. Man kann alles kaufen, sonntags gibt es Schweine-oder Sauerbraten.
Sie geht schweigend, mit ernstem Gesicht. Manchmal knickt sie um, geht aber weiter, ohne sich verletzt zu haben. Ihr Gesicht zeigt Verwirrung, Unsicherheit, Ärger. Dieses Schweigen ängstigt mich ein wenig, ich versuche so brav wie möglich zu sein, mich zu beeilen. Ich fühle mich überflüssig und ein wenig störend. Wir finden eine Strickjacke. Sie ist rot kariert. Ich probiere sie an. Die Wolle kratzt ein bisschen, aber das Rot leuchtet und lässt auch mich strahlen. Endlich lächelt meine Mutter mich an.



Hinter den Spiegeln:
Ich stehe vor dem Kleiderschrank und schaue in den Spiegel. Der Kleiderschrank ist hoch und etwas klobig gebaut, oben mit Jugendstil Elementen verziert. Ich sehe mich. Die Strickjacke fühlt sich ein wenig rau an, aber die Farbe leuchtet. Ich schneide eine Grimasse und studiere meine Gesichtszüge. Mein Gesicht nähert sich seinem Spiegelbild und ich stubse mit der Nase an den Spiegel. Er ist kühl. Ich trete einen Schritt zurück, schließe die Augen. Plötzlich fühle ich unter mir so etwas wie ein Laufband. Es bewegt sich nach vorn. Ich lasse mich wie auf einer Rolltreppe befördern. Als ich meine Augen wieder öffne liegt der Spiegel hinter mir und ich sehe an der Stelle, an der ich mein Gesicht gesehen hab, ein Buch. Es liegt einladend auf einem Stehpult. Neugierig trete ich einen Schritt näher und schlage die erste Seite auf.
Vor mir erstreckt sich eine blühende Wiese. Kornblumen, Klatschmohn, verschiedene Gräser und andere leuchtende Farben überwältigen mich. Dahinter steht ein großes Haus, von hohen Bäumen umwachsen. Es sieht aus wie ein Gutshaus, stattlich und sicher sehr geräumig. Jetzt kommt eine Frau aus der Tür. Sie geht ein paar Stufen hinunter, sieht mich und kommt auf dem Pfad um die Wiese herum auf mich zu. Sie lächelt mich an und bleibt ein paar Schritte vor mir stehen. „Hallo“, sagt sie. „Hallo“ antworte ich schüchtern.
Du siehst aus, als ob dir die Blumen gefielen.“ „Ja.“ sage ich, immer noch sehr vorsichtig.
Möchtest du mitkommen?“ Sie lächelt mich so vertraut an, als ob ich sie schon lange kenne. Dann dreht sie sich um und geht auf das Haus zu. Ich folge ihr. Wir betreten eine große Diele, die mit dunklem Holz getäfelt ist. Durch eine geöffnete Tür auf der gegenüberliegenden Seite fällt Licht herein, warmes Sonnenlicht. Sie wendet sich nach rechts und wir betreten eine große geräumige Küche, mit blau-weißen Kacheln ausgekleidet.
Auf einem mit Holz gefeuerten Herd stehen Töpfe. Es brodelt leise und riecht nach Kräutern und ich nehme einen leichten Geruch nach Braten wahr. Auf dem Tisch liegt ein Buch.
Sie setzt sich an den Tisch und gießt mir ein Glas Milch aus einem Krug ein. Während sie es zu mir herüber schiebt, lächelt sie mich an. „Du siehst neugierig aus. Möchtest du etwas wissen?“ Ich fühle mich sehr ruhig und warte ab, was sie weiter sagt oder tut. Dann, nach einer kleinen Pause, wird mir doch etwas unbehaglich: „Ich weiß nicht“ stottere ich.
Ich werde dir etwas vorlesen,“ entscheidet sie, lächelt mir aufmunternd zu und nimmt das Buch in die Hand. „Ja.“ Sage ich und setze mich auf den Stuhl ihr gegenüber. Sie schlägt das Buch auf und beginnt:
Es waren einmal ein König und eine Königin, die hatten keine Kinder und waren darüber gar sehr betrübt. Sie reisten zwar in alle möglichen Bäder, sie sparten nicht mit Gelübden und Wallfahrten, aber nichts wollte helfen. Endlich wurde die Königin dennoch guter Hoffnung und kam mit einer Tochter nieder. Eine schöne Tauffeier wurde ausgerichtet, und um diese Tochter recht glücklich zu machen, bat man alle Feen aus dem ganzen Lande, derer sieben waren, zu Gevatterinnen, damit ihr jede, wie es damals unter den Feen üblich war, ein Geschenk machen und die Prinzessin auf diese Weise alle nur möglichen Vollkommenheiten erhalten möchte. Nach der Taufe ging die ganze Gesellschaft in den königlichen Palast, wo man den Feen ein herrliches Gastmahl gab. Jeder legte man ein prächtiges Kuvert auf, mit einem Futteral von gediegenem Golde, in welchem Messer, Gabel und Löffel steckten, alles von dem feinsten Golde, mit Diamanten und Rubinen besetzt. Da sich aber die ganze Gesellschaft schon zu Tische gesetzt hatte, öffnete sich die Tür und eine alte Fee trat herein, die nicht eingeladen worden war, weil sie nun seit länger als fünfzig Jahren nicht mehr ausging und weil man glaubte, sie wäre in ihrem Turme gestorben oder verzaubert.“
Sie blickt auf und lächelt mich an. „Ich kenne die Geschichte“, sage ich. „Das ist doch Dornröschen. „Ja, ein bisschen anders als Dornröschen, Dornröschen auf Französisch, von einem Schriftsteller geschrieben, der Charles Perrault heißt.“ „Mhm“ Ich nicke. „ Papa ist Französischlehrer. Er war in Frankreich und hat dort ein Bein verloren. Im Krieg. Wir haben einen Krug aus Frankreich im Wohnzimmer stehen, auf dem Büfett. Der ist sehr schön..“
Wärst du auch gern eine Prinzessin?“ Ich seufze tief, aus voller Brust. „Viele guuuuuute Feen hätte ich gern! Und alle sind ganz lieb zu mir und haben Wünsche für mich.“ Sie lächelt und legt das Buch beiseite, steht auf und nimmt den Deckel von dem Bratentopf. Ein wunderbarer Duft zieht zu mir herüber. Sie gießt ein wenig Wasser in den Topf und wischt sich die Hände an der Schürze ab.
Ich finde mich vor dem Spiegel wieder, wie ich versuche, durch meine Augen hindurch zu sehen.