Mittwoch, 26. September 2012

Die rote Strickjacke


Die rote Strickjacke





Zeitlupe:

Anfang der Fünfziger ist Weihnachten eine Zeit gemütlicher Häuslichkeit. Stollen und Spekulatius backen, hausgemachte Sülze aus Kalbfleisch zubereiten, alle helfen mit. Weihnachtslieder singen , ich als Jüngste muss ein Gedicht aufsagen.
Im Radio hören wir klassische Musik, besonders sonntags.Vor dem Mittagessen oder auch beim Essen. Symphoniekonzerte. Die Musik hat etwas Feierliches, Besonderes, ist die Krönung des Sonntagsessens.
Das erste Buch, das ich nach einem halben Jahr Schule lese, ist ein Märchen. „Prinzessin Huschewind“, von Fritz Peter Buch. Die Prinzessin tollt den ganzen Tag umher, durch die Natur, singt und tanzt und freut sich des Lebens. Da das Prinzesschen aber auch etwas lernen soll, bestellt der König einen strengen Hofmarschall, der Huschewind aus Wut verwünscht und sie verdammt, so lange auf ihrem Stuhl sitzen zu bleiben, bis der Wald zu ihr herein kommt. Da sitzt sie nun, die Arme, aber ihre Freundin, das arme Köhlerkäthchen, besteht einige Abenteuer, bis endlich (zu Weihnachten) das „Tannenfräulein“ in Gestalt des Weihnachtsbaums in die Stube kommt. So eine schöne Geschichte!!! Auch ich muss schreckliche Tage auf einem Stühlchen sitzen, weil ich heißen Tee auf meine Oberschenkel geschüttet habe und ausgerechnet an sonnigen Pfingsttagen nicht laufen kann.
Einen strengen Hofmarschall gibt es nicht, aber die Atmosphäre zu Hause ist so, dass ich gar nicht auf die Idee komme laut zu sein oder herum zu tollen. Mein Vater sitzt im Wohnzimmer am Schreibtisch, liest Krimis oder korrigiert Schülerarbeiten,

Das erste Kleidungsstück, verbunden mit einem besonderen Ereignis in meinem Leben, ist eine bunte Strickjacke, die ich zur Einschulung bekomme, 1953, im März wahrscheinlich. Ich bin fünf Jahre alt, werde im Mai sechs, und soll ab Ostern zur Schule gehen. Ich fühle mich wie eine Prinzessin. Meine Mutter geht mit mir einkaufen, etwas Schönes zum Anziehen, eine knallrote Strickjacke, das ist wie Geburtstag und Weihnachten zusammen.
Meine Mutter hab ich für mich allein bei Spaziergängen im botanischen Garten, als ich noch drei, vier Jahre alt bin, wir freuen uns gemeinsam über Blumen, Stiefmütterchen im Mai, meinem Geburtsmonat, über die ersten Frühlingsblumen, zwischendurch auf den Beeten noch ganz viel schwarze, frische Gartenerde. Gänseblümchen und Löwenzahn auf dem Trümmergrundstück hinter dem Haus, indem wir eine herunter gekommene Mietwohnung haben. In dem kleinen Zimmer, in dem meine Schwester und ich schlafen, ist die Tapete teilweise abgerissen und hängt herunter. Der jüngste meiner Brüder schläft im Badezimmer, einem Zimmer mit einer Badewanne mittendrin.

Ich sehe mich an der Hand meiner Mutter oder auch, da ich ja nicht mehr so ganz klein bin und schon bald zur Schule gehen soll, hinter ihr her laufen. Sie hat es eilig.
Ich bin aufgeregt und freue mich. Ich freue mich auf die Schule. Es wird mir langweilig, jeden Tag mit den Nachbarskindern zu spielen. Sie sind jünger als ich. Es ist kein Mädchen in meinem Alter dabei. Ein älteres Mädchen aus dem Haus lässt mich zuschauen, wenn sie zeichnet. Ich zeichne nicht gern. Also schenkt sie mir ihre Zeichnungen. Sie schreibt dazu Texte und bindet die Seiten zu einem wunderschönen Heft. Sie macht es auch für mich. Ich schenke so ein Heft meinen Eltern zu Weihnachten, fühle mich aber nicht sehr wohl dabei. Ich schäme mich, dass die Zeichnungen nicht von mir sind. Hab ich selbst denn nichts zu bieten? Meine Zeichnungen sind sehr ungelenk – außerdem haben wir schon einen Zeichner im Haus, meinen Bruder Franz. Aber es macht Spaß, mit ihr zusammen zu sitzen und Weihnachtsgeschenke herzustellen.
Einmal erzählt das Nachbarmädchen mir auf einem langen Spaziergang deutsche und griechische Sagen,. Ich bin verzaubert. Sie erzählt spannend. Wir gehen durch etwas verwilderte Gegend, durch einen Wald. Ich höre zu und versinke in den dramatischen Geschichten aus alten Zeiten.
Nun ist mit der Schule meine Zeit zur Veränderung gekommen. Ich bin neugierig auf das Lernen in der Schule, begierig und voller Vorfreude. Was wird mir Spannendes und Aufregendes passieren oder welche Geschichten werde ich hören?
Meine Mutter geht schnell. Ich versuche ihr zu folgen, vorbei an etwas heruntergekommenen Altbauten und noch einigen Ruinen, die vom Krieg übrig geblieben sind. Anfang der Fünfziger ist noch fast jedes zweite Haus eine Ruine oder irgendwie beschädigt, jedenfalls in meiner Erinnerung. Die meisten Häuser sehen grau und schäbig aus. Doch der Aufbruch liegt in der Luft. Man kann alles kaufen, sonntags gibt es Schweine-oder Sauerbraten.
Sie geht schweigend, mit ernstem Gesicht. Manchmal knickt sie um, geht aber weiter, ohne sich verletzt zu haben. Ihr Gesicht zeigt Verwirrung, Unsicherheit, Ärger. Dieses Schweigen ängstigt mich ein wenig, ich versuche so brav wie möglich zu sein, mich zu beeilen. Ich fühle mich überflüssig und ein wenig störend. Wir finden eine Strickjacke. Sie ist rot kariert. Ich probiere sie an. Die Wolle kratzt ein bisschen, aber das Rot leuchtet und lässt auch mich strahlen. Endlich lächelt meine Mutter mich an.



Hinter den Spiegeln:
Ich stehe vor dem Kleiderschrank und schaue in den Spiegel. Der Kleiderschrank ist hoch und etwas klobig gebaut, oben mit Jugendstil Elementen verziert. Ich sehe mich. Die Strickjacke fühlt sich ein wenig rau an, aber die Farbe leuchtet. Ich schneide eine Grimasse und studiere meine Gesichtszüge. Mein Gesicht nähert sich seinem Spiegelbild und ich stubse mit der Nase an den Spiegel. Er ist kühl. Ich trete einen Schritt zurück, schließe die Augen. Plötzlich fühle ich unter mir so etwas wie ein Laufband. Es bewegt sich nach vorn. Ich lasse mich wie auf einer Rolltreppe befördern. Als ich meine Augen wieder öffne liegt der Spiegel hinter mir und ich sehe an der Stelle, an der ich mein Gesicht gesehen hab, ein Buch. Es liegt einladend auf einem Stehpult. Neugierig trete ich einen Schritt näher und schlage die erste Seite auf.
Vor mir erstreckt sich eine blühende Wiese. Kornblumen, Klatschmohn, verschiedene Gräser und andere leuchtende Farben überwältigen mich. Dahinter steht ein großes Haus, von hohen Bäumen umwachsen. Es sieht aus wie ein Gutshaus, stattlich und sicher sehr geräumig. Jetzt kommt eine Frau aus der Tür. Sie geht ein paar Stufen hinunter, sieht mich und kommt auf dem Pfad um die Wiese herum auf mich zu. Sie lächelt mich an und bleibt ein paar Schritte vor mir stehen. „Hallo“, sagt sie. „Hallo“ antworte ich schüchtern.
Du siehst aus, als ob dir die Blumen gefielen.“ „Ja.“ sage ich, immer noch sehr vorsichtig.
Möchtest du mitkommen?“ Sie lächelt mich so vertraut an, als ob ich sie schon lange kenne. Dann dreht sie sich um und geht auf das Haus zu. Ich folge ihr. Wir betreten eine große Diele, die mit dunklem Holz getäfelt ist. Durch eine geöffnete Tür auf der gegenüberliegenden Seite fällt Licht herein, warmes Sonnenlicht. Sie wendet sich nach rechts und wir betreten eine große geräumige Küche, mit blau-weißen Kacheln ausgekleidet.
Auf einem mit Holz gefeuerten Herd stehen Töpfe. Es brodelt leise und riecht nach Kräutern und ich nehme einen leichten Geruch nach Braten wahr. Auf dem Tisch liegt ein Buch.
Sie setzt sich an den Tisch und gießt mir ein Glas Milch aus einem Krug ein. Während sie es zu mir herüber schiebt, lächelt sie mich an. „Du siehst neugierig aus. Möchtest du etwas wissen?“ Ich fühle mich sehr ruhig und warte ab, was sie weiter sagt oder tut. Dann, nach einer kleinen Pause, wird mir doch etwas unbehaglich: „Ich weiß nicht“ stottere ich.
Ich werde dir etwas vorlesen,“ entscheidet sie, lächelt mir aufmunternd zu und nimmt das Buch in die Hand. „Ja.“ Sage ich und setze mich auf den Stuhl ihr gegenüber. Sie schlägt das Buch auf und beginnt:
Es waren einmal ein König und eine Königin, die hatten keine Kinder und waren darüber gar sehr betrübt. Sie reisten zwar in alle möglichen Bäder, sie sparten nicht mit Gelübden und Wallfahrten, aber nichts wollte helfen. Endlich wurde die Königin dennoch guter Hoffnung und kam mit einer Tochter nieder. Eine schöne Tauffeier wurde ausgerichtet, und um diese Tochter recht glücklich zu machen, bat man alle Feen aus dem ganzen Lande, derer sieben waren, zu Gevatterinnen, damit ihr jede, wie es damals unter den Feen üblich war, ein Geschenk machen und die Prinzessin auf diese Weise alle nur möglichen Vollkommenheiten erhalten möchte. Nach der Taufe ging die ganze Gesellschaft in den königlichen Palast, wo man den Feen ein herrliches Gastmahl gab. Jeder legte man ein prächtiges Kuvert auf, mit einem Futteral von gediegenem Golde, in welchem Messer, Gabel und Löffel steckten, alles von dem feinsten Golde, mit Diamanten und Rubinen besetzt. Da sich aber die ganze Gesellschaft schon zu Tische gesetzt hatte, öffnete sich die Tür und eine alte Fee trat herein, die nicht eingeladen worden war, weil sie nun seit länger als fünfzig Jahren nicht mehr ausging und weil man glaubte, sie wäre in ihrem Turme gestorben oder verzaubert.“
Sie blickt auf und lächelt mich an. „Ich kenne die Geschichte“, sage ich. „Das ist doch Dornröschen. „Ja, ein bisschen anders als Dornröschen, Dornröschen auf Französisch, von einem Schriftsteller geschrieben, der Charles Perrault heißt.“ „Mhm“ Ich nicke. „ Papa ist Französischlehrer. Er war in Frankreich und hat dort ein Bein verloren. Im Krieg. Wir haben einen Krug aus Frankreich im Wohnzimmer stehen, auf dem Büfett. Der ist sehr schön..“
Wärst du auch gern eine Prinzessin?“ Ich seufze tief, aus voller Brust. „Viele guuuuuute Feen hätte ich gern! Und alle sind ganz lieb zu mir und haben Wünsche für mich.“ Sie lächelt und legt das Buch beiseite, steht auf und nimmt den Deckel von dem Bratentopf. Ein wunderbarer Duft zieht zu mir herüber. Sie gießt ein wenig Wasser in den Topf und wischt sich die Hände an der Schürze ab.
Ich finde mich vor dem Spiegel wieder, wie ich versuche, durch meine Augen hindurch zu sehen.

Mittwoch, 19. September 2012

1. Kapitel, noch kein Kleid


Zeitlupe:

Zu der Zeit, als dieser Brief geschrieben wurde, bin ich, die Jüngste, der „Nachkömmling“, noch nicht auf der Welt, ich liege als „Quark im Schaufenster“ wie man von Ungeborenen zu sagen pflegte, habe keine Ahnung von meinen späteren Eltern, die sich mit „Mädel“ und „lieber Papa“ anreden, von Krieg und einer Stadt namens Paris, in die „unsere Truppen einrückten“ und die so „besondere Frauenzimmer“ beherbergt.
1947, vier schicksalhafte Jahre später, im Wonnemonat Mai, am Pfingstmontag, werde ich geboren.Meine Mutter ist 39, mein Vater 42 Jahre alt. Mein Vater ist nach Kriegsende zurück gekommen, nicht heil und unversehrt. Er hat auf einem Sanitätswagen gelegen, ein Bein von einer Plane verdeckt. Das andere Bein ist getroffen worden. Er muss die Wunde selbst abbinden, um nicht zu verbluten, weil die deutschen Ärzte die Front verlassen haben. In der französischen Gefangenschaft wird ihm das Bein bis auf einen kurzen Stumpf amputiert und man gibt ihm Morphium gegen die Schmerzen. Da er französisch versteht, hört er, wie ein Arzt vor ihm steht und zu einer Schwester sagt; er werde wohl nicht durchkommen. Durch ihn sei ein Ruck gegangen, der seine vitalen Kräfte mobilisiert habe: Ich muss nach Hause, ich habe eine Frau und vier Kinder! Meine Mutter erzählt uns, dass sie in dem Augenblick, als er verwundet wird, eine kurze Ohnmacht erleidet ,zu Hause, in Deutschland. Mein Vater überlebt und kommt, unterernährt und mit nur einem Bein, aus dem Krieg nach Hause zurück. Eine Prothese ersetzt ihm das Bein und er geht fortan mit einem Stock. Das fehlende Bein verursacht ihm bei Wetterumstellung Phantomschmerzen. Dann spürt er jeden einzelnen Zeh und verzieht vor Schmerzen das Gesicht.
Wenn ich auf seinem Schoß sitze, machen wir Scherze, ist es das Holzbein oder das gesunde Bein? Das ist das Holzbein, ach ja, und ich rutsche auf das gesunde weiche Bein.



Äpfel pflücken
Ich soll mit meinen Freundinnen Äpfel sammeln gehen, in dem Schulgarten, den wir zur Hälfte zur Verfügung haben. Eigentlich wollen wir spielen gehen, doch meine Mutter gibt uns diesen kleinen Auftrag. Als wir in dem Garten sind, leuchten mir die Äpfel am Baum so viel schöner herab als die Hässlichen auf dem Boden, schon etwas angeschlagen, so dass ich von plötzlicher Begeisterung erfasst werde und anfange, die schönen Äpfel abzupflücken und sie in das Netz zu sammeln. Meine Freundinnen helfen begeistert mit. Aus Freude über die Tätigkeit hab ich die Hoffnung, das Gesicht meiner Mutter aufzuhellen. Freude, die sich von einem kleinen Mädchen auf ihre Mutter überträgt, an der Tochter, die so vergnügt ist, auch wenn der Auftrag nicht korrekt ausgeführt wurde. Ich wünsche nichts sehnlicher, als dass sich meine Stimmung auf meine Mutter überträgt und ich meine Mutter glücklich mache. Vielleicht wird sie mich anlachen und sagen: „ Das hast du wirklich gut gemacht, eine gute Idee. Kommt, ich schneide euch ein paar Äpfel auf, die essen wir dann zusammen.“ Vielleicht schaffe ich es, sie aus ihrer etwas traurigen, immer gehetzten Stimmung zu befreien. Welch eine Erleichterung wäre das auch für mich. Bedrückte Stimmung drückt auch mich nieder, läßt mich verstummen und in die Welt der Bücher fliehen, in herrliche, glückliche, abenteuerliche Welten.
Als wir mit unseren gesammelten Schätzen ankommen, sagt sie etwas müde: „Aber ihr solltet doch die Falläpfel sammeln, nicht die vom Baum pflücken…“ Ich falle aus den Höhen meiner Begeisterung, falle weiter, immer weiter, wie Alice im Wunderland, nur nicht so neugierig und aufgeregt, falle viele Jahre lang, die müde unglückliche Antwort oder der Ausdruck dieser Stimmung verlässt mich lange nicht , die Begeisterung allerdings auch nicht. Begeisterung mit anschließendem Verstummen, müder Bedrücktheit.




Sonntag, 9. September 2012

Titel und Intro/Prolog

Anna-Katharina Hölscher


Schnittmuster

Meine Schönen Kleider

vom deutschen Mädel zur digitalen Frau

Eine Zeitreise



Intro/ Prolog

11.6.43

Meine liebe Lilli!
Nun bin ich also wieder zurück in der Stellung. Es hat noch einen Tag länger gedauert. Wir waren vorgestern Abend schon verladen und nach einigen Stunden Wartens hieß es dann doch: aussteigen – Nebel – Irgend so was kommt ja immer dazwischen. Na, gestern Abend klappte es dann aber mit der Überfahrt. Hatten eine sehr ruhige Fahrt, halb neun waren wir in der Stellung. Hier fand ich fünf liebe Briefe von dir vor, einen mit Zigaretten, einen mit anderem Inhalt. Herzlichen Dank, Mädel. Ist ja gerade, als wenn du es geahnt hättest, wie notwendig ich das brauchte. Hast du fein gemacht. Ist doch schade, dass du dir die dumme Grippe da holen musstest. Ich mache mir auch jetzt keine unnötigen Sorgen mehr, Mädel. Weiß wohl, dass es bei dir Überbeanspruchung ist, deshalb allerdings auch meine Sorge anfangs, als du nach Borsdorf fuhrst, wo es Mutter so schlecht ging. Na hoffentlich hast
du dich inzwischen von der Krankheit erholt und kannst noch zusätzlich etwas Kräfte auf Vorrat speichern, vor allem Ruhe sammeln. Wegen der Finanzen mach dir man nicht zu viele Sorgen. Es ist eben diesen Winter durch die „Schweinerei“ gekommen. Hauptsache, dass du nicht tiefer reinrutschst und allmählich heraus kannst. Du schreibst, es wäre dir erwünscht, wenn ich im Juni auskäme. Kann dir das leider nicht mitteilen. Das wirst du dir ja auch selber gesagt haben, dass ich für diese Pariser Fahrt was gebraucht habe. Na, nun will ich aber erst mal berichten. Also:
Es kam natürlich alles sehr plötzlich. Aus der Schreibstube wurde angefragt, wer noch nicht in Paris war. Habe jetzt einen Wachtmeister als Spieß, Fuchs aus Hannover, der den Spieß in seinem Urlaub vertritt. Fuchs habe ich damals schon in Französisch unterrichtet und jetzt ist er auch im Englischen mein Schüler. Außerdem duze ich mich mit ihm. Und dann ging es los. Vormittags schnell zum Arzt zur Untersuchung. Dann nachmittags während der Geländeausbildung um halb fünf hieß es, sofort zur Schreibstube. Musste noch mit dem Fahrrad zur Abteilung, um meinen Marschbefehl zu holen. In Hast zu Abend gegessen, schnell die paar Klamotten gepackt und dann konnte ich zum Glück mit dem Chef im Auto zur Schiffsstelle fahren. Überfahrt wie gewöhnlich. Am Samstagabend kam ich schon in Paris an. Anmeldung. Ich sollte erst wieder nach auswärts in ein Hotel, konnte dann aber für die erste Nacht in einem Übernachtungsheim bleiben. Sonntag morgen bekam ich dann ein Hotelzimmer. Hotel Calais, mitten in der Stadt. Am Sonntag hab ich mir dann allein Paris mal angesehen. Es ist wirklich eine einzigartige Stadt. Wundervolle Bäume und Straßen. Und all die Bauten sind so hingestellt, dass sie von allen Seiten und weithin gesehen werden können. Der Triumphbogen mit dem Grabmal des unbekannten Soldaten ist wirklich ein „Triumph“ bogen. Und eine herrlich breite Straße führt darauf zu. Die Straße, auf der unsere Truppen auch in Paris einrückten. Na, ich schick dir nächstes Mal die Photos zu und muss dir das im nächsten Urlaub mal näher zeigen. Schade, dass du nicht dabei sein konntest! Am Nachmittag sind wir dann zu dritt über die Boulevards, die Hauptstraßen, früher die Wälle der alten Stadt, geschlendert. Da bummelte alles her, sehr viel Militär, aber noch mehr Zivilisten. Die Pariserin im Sonntagsstaat natürlich. Ja, die Pariserin! Es ist wirklich auch ein besonderes Frauenzimmer, nicht gerade mein Ideal, aber eben doch was Besonderes, anders als die übrigen Französinnen, eleganter, geschmackvoller, mit viel Chic und Eleganz. Hüte hab ich gesehen! Wagenräder! Wenn man den Hut sieht, kriegt man einen Lachkrampf, aber die Pariserin kann die Dinger tragen. Sie stehen ihr. Auch mit dem Schminken. Die Pariserin versteht es wirklich. Sie malt ihre Lippen, aber geschickt, nicht so blödsinnig und auffällig wie leider meist die deutschen Mädel. Und wenn man mal übel geschminkte Mädel sah, waren es Provinzlerinnen oder - deutsche Mädel, die Paris nachmachen wollten. So was steht der Pariserin, es passt zu ihrem Charakter und ihrer Erscheinung, aber eben nicht für ein deutsches Mädel. Und dann das Leben auf den Straßen! Alles ist draußen. Viele sitzen in und vor den Cafés. Die Cafés sind zur Straße hin vollkommen offen und fünf bis zehn Reihen Stühle stehen noch auf dem Bürgersteig, alle mit dem Blick zur Straße, und davor wandelt dann alles hin. Schaustellung! Sah sogar einen Frisiersalon. Die ganze Front Fenster, direkt am Fenster saßen die Damen und Dämchen mit ihren Apparaten um den Kopf, jedem sichtbar, vor allem aber – sie kann selbst alles auf der Straße beobachten. Und so ist das auf den riesenlangen Boulevards, die sich genau wie die Promenaden in Münster rund um die Altstadt ziehen und auf der endlos langen Prachtstraße, den Champs Elysées, die zum Triumphbogen führen. Zur Schau stellen, das ist pariserisch. Gebäude, Menschen, Kleidung und in den großen Kabaretts eben auch der unbekleidete menschliche Körper, alles wird zur Schau gestellt. Es ist eben im Gegensatz zum Deutschen doch eine ziemlich aufs Äußerliche eingestellte Kultur. Auch die Unterhaltung ist eine solche Schaustellung des Geistes, man zeigt Esprit, Witz, Wendigkeit, lässt seine Sprachtalente aufblitzen, es kommt gar nicht so sehr auf den Inhalt an, auch nicht, dass einer unbedingt zuhört, man muss sich aber zeigen können. Für den Deutschen, besonders für den doch innerlich veranlagten und in jeder Beziehung zurückhaltenden und keuschen Niedersachsen, der seine Gefühle ungern, wenn überhaupt, preisgibt, ist das mal ganz interessant zu beobachten, aber eben fremd. ………
Und abends waren wir dann in dem Kabarett, den Folies Bergères, einem der berühmtesten Kabaretts. Auch das ein Erlebnis. Es war wirklich großartig. Die Mädels natürlich nur sehr sparsam bekleidet. Na, ich will dir doch mal das Programm zuschicken. Oben hatten sie im Allgemeinen nichts, unten oft nur so ein kleines Dreieck wie ein Feigenblatt. In Cherbourg waren auch wohl mal so genannte Pariser Revuen, habe nur eine gesehen, war ziemlich plump und infolgedessen widerlich. Diese Revue wirkte trotz der Nacktheiten keineswegs schwül oder grob sinnlich. Es waren natürlich ausgesucht schöne Körper, ist ja klar. Und das Wesentliche waren aber doch die Bühnengestaltung, die phantastischen Beleuchtungswirkungen, die Kostüme, die Farben. Na, so was muss man gesehen haben. Man kann es nicht schildern. In Deutschland ist so etwas natürlich kaum denkbar, es würde da sofort in eine Schweinerei, in eine Orgie ausarten. Diese unbekümmerte Zurschaustellung ist eben für den Deutschen unnatürlich. Für einen Neger ist ja völlige Nacktheit auch das natürliche Gewand und auch für uns nicht anstößig. Es dauerte von abends acht bis halb elf mit nur einen kurzen Pause, sonst folgte Nummer auf Nummer ohne jede Unterbrechung.
(...)
Also, grüß Oma, Tante Marianne, - wünsch beiden gute Besserung – und Mathilde. Den Kindern einen herzlichen Kuss. Und du selbst sei recht lieb in den Arm genommen und geküsst von deinem To