Die
rote Strickjacke
Zeitlupe:
Anfang
der Fünfziger ist Weihnachten eine Zeit gemütlicher Häuslichkeit.
Stollen und Spekulatius backen, hausgemachte Sülze aus Kalbfleisch
zubereiten, alle helfen mit. Weihnachtslieder singen , ich als
Jüngste muss ein Gedicht aufsagen.
Im
Radio hören wir klassische Musik, besonders sonntags.Vor dem
Mittagessen oder auch beim Essen. Symphoniekonzerte. Die Musik hat
etwas Feierliches, Besonderes, ist die Krönung des Sonntagsessens.
Das
erste Buch, das ich nach einem halben Jahr Schule lese, ist ein
Märchen. „Prinzessin Huschewind“, von Fritz Peter Buch. Die
Prinzessin tollt den ganzen Tag umher, durch die Natur, singt und
tanzt und freut sich des Lebens. Da das Prinzesschen aber auch etwas
lernen soll, bestellt der König einen strengen Hofmarschall, der
Huschewind aus Wut verwünscht und sie verdammt, so lange auf ihrem
Stuhl sitzen zu bleiben, bis der Wald zu ihr herein kommt. Da sitzt
sie nun, die Arme, aber ihre Freundin, das arme Köhlerkäthchen,
besteht einige Abenteuer, bis endlich (zu Weihnachten) das
„Tannenfräulein“ in Gestalt des Weihnachtsbaums in die Stube
kommt. So eine schöne Geschichte!!! Auch ich muss schreckliche
Tage auf einem Stühlchen sitzen, weil ich heißen Tee auf meine
Oberschenkel geschüttet habe und ausgerechnet an sonnigen
Pfingsttagen nicht laufen kann.
Einen
strengen Hofmarschall gibt es nicht, aber die Atmosphäre zu Hause
ist so, dass ich gar nicht auf die Idee komme laut zu sein oder herum
zu tollen. Mein Vater sitzt im Wohnzimmer am Schreibtisch, liest
Krimis oder korrigiert Schülerarbeiten,
Das
erste Kleidungsstück, verbunden mit einem besonderen Ereignis in
meinem Leben, ist eine bunte Strickjacke, die ich zur Einschulung
bekomme, 1953, im März wahrscheinlich. Ich bin fünf Jahre alt,
werde im Mai sechs, und soll ab Ostern zur Schule gehen. Ich fühle
mich wie eine Prinzessin. Meine Mutter geht mit mir einkaufen, etwas
Schönes zum Anziehen, eine knallrote Strickjacke, das ist wie
Geburtstag und Weihnachten zusammen.
Meine
Mutter hab ich für mich allein bei Spaziergängen im botanischen
Garten, als ich noch drei, vier Jahre alt bin, wir freuen uns
gemeinsam über Blumen, Stiefmütterchen im Mai, meinem Geburtsmonat,
über die ersten Frühlingsblumen, zwischendurch auf den Beeten noch
ganz viel schwarze, frische Gartenerde. Gänseblümchen und
Löwenzahn auf dem Trümmergrundstück hinter dem Haus, indem wir
eine herunter gekommene Mietwohnung haben. In dem kleinen Zimmer, in
dem meine Schwester und ich schlafen, ist die Tapete teilweise
abgerissen und hängt herunter. Der jüngste meiner Brüder schläft
im Badezimmer, einem Zimmer mit einer Badewanne mittendrin.
Ich
sehe mich an der Hand meiner Mutter oder auch, da ich ja nicht mehr
so ganz klein bin und schon bald zur Schule gehen soll, hinter ihr
her laufen. Sie hat es eilig.
Ich
bin aufgeregt und freue mich. Ich freue mich auf die Schule. Es wird
mir langweilig, jeden Tag mit den Nachbarskindern zu spielen. Sie
sind jünger als ich. Es ist kein Mädchen in meinem Alter dabei. Ein
älteres Mädchen aus dem Haus lässt mich zuschauen, wenn sie
zeichnet. Ich zeichne nicht gern. Also schenkt sie mir ihre
Zeichnungen. Sie schreibt dazu Texte und bindet die Seiten zu einem
wunderschönen Heft. Sie macht es auch für mich. Ich schenke so ein
Heft meinen Eltern zu Weihnachten, fühle mich aber nicht sehr wohl
dabei. Ich schäme mich, dass die Zeichnungen nicht von mir sind. Hab
ich selbst denn nichts zu bieten? Meine Zeichnungen sind sehr
ungelenk – außerdem haben wir schon einen Zeichner im Haus, meinen
Bruder Franz. Aber es macht Spaß, mit ihr zusammen zu sitzen und
Weihnachtsgeschenke herzustellen.
Einmal
erzählt das Nachbarmädchen mir auf einem langen Spaziergang
deutsche und griechische Sagen,. Ich bin verzaubert. Sie erzählt
spannend. Wir gehen durch etwas verwilderte Gegend, durch einen Wald.
Ich höre zu und versinke in den dramatischen Geschichten aus alten
Zeiten.
Nun
ist mit der Schule meine Zeit zur Veränderung gekommen. Ich bin
neugierig auf das Lernen in der Schule, begierig und voller
Vorfreude. Was wird mir Spannendes und Aufregendes passieren oder
welche Geschichten werde ich hören?
Meine
Mutter geht schnell. Ich versuche ihr zu folgen, vorbei an etwas
heruntergekommenen Altbauten und noch einigen Ruinen, die vom Krieg
übrig geblieben sind. Anfang der Fünfziger ist noch fast jedes
zweite Haus eine Ruine oder irgendwie beschädigt, jedenfalls in
meiner Erinnerung. Die meisten Häuser sehen grau und schäbig aus.
Doch der Aufbruch liegt in der Luft. Man kann alles kaufen, sonntags
gibt es Schweine-oder Sauerbraten.
Sie
geht schweigend, mit ernstem Gesicht. Manchmal knickt sie um, geht
aber weiter, ohne sich verletzt zu haben. Ihr Gesicht zeigt
Verwirrung, Unsicherheit, Ärger. Dieses Schweigen ängstigt mich ein
wenig, ich versuche so brav wie möglich zu sein, mich zu beeilen.
Ich fühle mich überflüssig und ein wenig störend. Wir finden eine
Strickjacke. Sie ist rot kariert. Ich probiere sie an. Die Wolle
kratzt ein bisschen, aber das Rot leuchtet und lässt auch mich
strahlen. Endlich lächelt meine Mutter mich an.
Hinter
den Spiegeln:
Ich
stehe vor dem Kleiderschrank und schaue in den Spiegel. Der
Kleiderschrank ist hoch und etwas klobig gebaut, oben mit Jugendstil
Elementen verziert. Ich sehe mich. Die Strickjacke fühlt sich ein
wenig rau an, aber die Farbe leuchtet. Ich schneide eine Grimasse und
studiere meine Gesichtszüge. Mein Gesicht nähert sich seinem
Spiegelbild und ich stubse mit der Nase an den Spiegel. Er ist kühl.
Ich trete einen Schritt zurück, schließe die Augen. Plötzlich
fühle ich unter mir so etwas wie ein Laufband. Es bewegt sich nach
vorn. Ich lasse mich wie auf einer Rolltreppe befördern. Als ich
meine Augen wieder öffne liegt der Spiegel hinter mir und ich sehe
an der Stelle, an der ich mein Gesicht gesehen hab, ein Buch. Es
liegt einladend auf einem Stehpult. Neugierig trete ich einen Schritt
näher und schlage die erste Seite auf.
Vor
mir erstreckt sich eine blühende Wiese. Kornblumen, Klatschmohn,
verschiedene Gräser und andere leuchtende Farben überwältigen
mich. Dahinter steht ein großes Haus, von hohen Bäumen umwachsen.
Es sieht aus wie ein Gutshaus, stattlich und sicher sehr geräumig.
Jetzt kommt eine Frau aus der Tür. Sie geht ein paar Stufen
hinunter, sieht mich und kommt auf dem Pfad um die Wiese herum auf
mich zu. Sie lächelt mich an und bleibt ein paar Schritte vor mir
stehen. „Hallo“, sagt sie. „Hallo“ antworte ich schüchtern.
„Du
siehst aus, als ob dir die Blumen gefielen.“ „Ja.“ sage ich,
immer noch sehr vorsichtig.
„Möchtest
du mitkommen?“ Sie lächelt mich so vertraut an, als ob ich sie
schon lange kenne. Dann dreht sie sich um und geht auf das Haus zu.
Ich folge ihr. Wir betreten eine große Diele, die mit dunklem Holz
getäfelt ist. Durch eine geöffnete Tür auf der gegenüberliegenden
Seite fällt Licht herein, warmes Sonnenlicht. Sie wendet sich nach
rechts und wir betreten eine große geräumige Küche, mit
blau-weißen Kacheln ausgekleidet.
Auf
einem mit Holz gefeuerten Herd stehen Töpfe. Es brodelt leise und
riecht nach Kräutern und ich nehme einen leichten Geruch nach
Braten wahr. Auf dem Tisch liegt ein Buch.
Sie
setzt sich an den Tisch und gießt mir ein Glas Milch aus einem Krug
ein. Während sie es zu mir herüber schiebt, lächelt sie mich an.
„Du siehst neugierig aus. Möchtest du etwas wissen?“ Ich fühle
mich sehr ruhig und warte ab, was sie weiter sagt oder tut. Dann,
nach einer kleinen Pause, wird mir doch etwas unbehaglich: „Ich
weiß nicht“ stottere ich.
„Ich
werde dir etwas vorlesen,“ entscheidet sie, lächelt mir
aufmunternd zu und nimmt das Buch in die Hand. „Ja.“ Sage ich und
setze mich auf den Stuhl ihr gegenüber. Sie schlägt das Buch auf
und beginnt:
„ Es
waren einmal ein König und eine Königin, die hatten keine Kinder
und waren darüber gar sehr betrübt. Sie reisten zwar in alle
möglichen Bäder, sie sparten nicht mit Gelübden und Wallfahrten,
aber nichts wollte helfen. Endlich wurde die Königin dennoch guter
Hoffnung und kam mit einer Tochter nieder. Eine schöne Tauffeier
wurde ausgerichtet, und um diese Tochter recht glücklich zu machen,
bat man alle Feen aus dem ganzen Lande, derer sieben waren, zu
Gevatterinnen, damit ihr jede, wie es damals unter den Feen üblich
war, ein Geschenk machen und die Prinzessin auf diese Weise alle nur
möglichen Vollkommenheiten erhalten möchte. Nach der Taufe ging die
ganze Gesellschaft in den königlichen Palast, wo man den Feen ein
herrliches Gastmahl gab. Jeder legte man ein prächtiges Kuvert auf,
mit einem Futteral von gediegenem Golde, in welchem Messer, Gabel und
Löffel steckten, alles von dem feinsten Golde, mit Diamanten und
Rubinen besetzt. Da sich aber die ganze Gesellschaft schon zu Tische
gesetzt hatte, öffnete sich die Tür und eine alte Fee trat herein,
die nicht eingeladen worden war, weil sie nun seit länger als
fünfzig Jahren nicht mehr ausging und weil man glaubte, sie wäre in
ihrem Turme gestorben oder verzaubert.“
Sie
blickt auf und lächelt mich an. „Ich kenne die Geschichte“, sage
ich. „Das ist doch Dornröschen. „Ja, ein bisschen anders als
Dornröschen, Dornröschen auf Französisch, von einem Schriftsteller
geschrieben, der Charles Perrault heißt.“ „Mhm“ Ich nicke. „
Papa ist Französischlehrer. Er war in Frankreich und hat dort ein
Bein verloren. Im Krieg. Wir haben einen Krug aus Frankreich im
Wohnzimmer stehen, auf dem Büfett. Der ist sehr schön..“
„Wärst
du auch gern eine Prinzessin?“ Ich seufze tief, aus voller Brust.
„Viele guuuuuute Feen hätte ich gern! Und alle sind ganz lieb zu
mir und haben Wünsche für mich.“ Sie lächelt und legt das Buch
beiseite, steht auf und nimmt den Deckel von dem Bratentopf. Ein
wunderbarer Duft zieht zu mir herüber. Sie gießt ein wenig Wasser
in den Topf und wischt sich die Hände an der Schürze ab.
Ich
finde mich vor dem Spiegel wieder, wie ich versuche, durch meine
Augen hindurch zu sehen.