Mittwoch, 19. September 2012

1. Kapitel, noch kein Kleid


Zeitlupe:

Zu der Zeit, als dieser Brief geschrieben wurde, bin ich, die Jüngste, der „Nachkömmling“, noch nicht auf der Welt, ich liege als „Quark im Schaufenster“ wie man von Ungeborenen zu sagen pflegte, habe keine Ahnung von meinen späteren Eltern, die sich mit „Mädel“ und „lieber Papa“ anreden, von Krieg und einer Stadt namens Paris, in die „unsere Truppen einrückten“ und die so „besondere Frauenzimmer“ beherbergt.
1947, vier schicksalhafte Jahre später, im Wonnemonat Mai, am Pfingstmontag, werde ich geboren.Meine Mutter ist 39, mein Vater 42 Jahre alt. Mein Vater ist nach Kriegsende zurück gekommen, nicht heil und unversehrt. Er hat auf einem Sanitätswagen gelegen, ein Bein von einer Plane verdeckt. Das andere Bein ist getroffen worden. Er muss die Wunde selbst abbinden, um nicht zu verbluten, weil die deutschen Ärzte die Front verlassen haben. In der französischen Gefangenschaft wird ihm das Bein bis auf einen kurzen Stumpf amputiert und man gibt ihm Morphium gegen die Schmerzen. Da er französisch versteht, hört er, wie ein Arzt vor ihm steht und zu einer Schwester sagt; er werde wohl nicht durchkommen. Durch ihn sei ein Ruck gegangen, der seine vitalen Kräfte mobilisiert habe: Ich muss nach Hause, ich habe eine Frau und vier Kinder! Meine Mutter erzählt uns, dass sie in dem Augenblick, als er verwundet wird, eine kurze Ohnmacht erleidet ,zu Hause, in Deutschland. Mein Vater überlebt und kommt, unterernährt und mit nur einem Bein, aus dem Krieg nach Hause zurück. Eine Prothese ersetzt ihm das Bein und er geht fortan mit einem Stock. Das fehlende Bein verursacht ihm bei Wetterumstellung Phantomschmerzen. Dann spürt er jeden einzelnen Zeh und verzieht vor Schmerzen das Gesicht.
Wenn ich auf seinem Schoß sitze, machen wir Scherze, ist es das Holzbein oder das gesunde Bein? Das ist das Holzbein, ach ja, und ich rutsche auf das gesunde weiche Bein.



Äpfel pflücken
Ich soll mit meinen Freundinnen Äpfel sammeln gehen, in dem Schulgarten, den wir zur Hälfte zur Verfügung haben. Eigentlich wollen wir spielen gehen, doch meine Mutter gibt uns diesen kleinen Auftrag. Als wir in dem Garten sind, leuchten mir die Äpfel am Baum so viel schöner herab als die Hässlichen auf dem Boden, schon etwas angeschlagen, so dass ich von plötzlicher Begeisterung erfasst werde und anfange, die schönen Äpfel abzupflücken und sie in das Netz zu sammeln. Meine Freundinnen helfen begeistert mit. Aus Freude über die Tätigkeit hab ich die Hoffnung, das Gesicht meiner Mutter aufzuhellen. Freude, die sich von einem kleinen Mädchen auf ihre Mutter überträgt, an der Tochter, die so vergnügt ist, auch wenn der Auftrag nicht korrekt ausgeführt wurde. Ich wünsche nichts sehnlicher, als dass sich meine Stimmung auf meine Mutter überträgt und ich meine Mutter glücklich mache. Vielleicht wird sie mich anlachen und sagen: „ Das hast du wirklich gut gemacht, eine gute Idee. Kommt, ich schneide euch ein paar Äpfel auf, die essen wir dann zusammen.“ Vielleicht schaffe ich es, sie aus ihrer etwas traurigen, immer gehetzten Stimmung zu befreien. Welch eine Erleichterung wäre das auch für mich. Bedrückte Stimmung drückt auch mich nieder, läßt mich verstummen und in die Welt der Bücher fliehen, in herrliche, glückliche, abenteuerliche Welten.
Als wir mit unseren gesammelten Schätzen ankommen, sagt sie etwas müde: „Aber ihr solltet doch die Falläpfel sammeln, nicht die vom Baum pflücken…“ Ich falle aus den Höhen meiner Begeisterung, falle weiter, immer weiter, wie Alice im Wunderland, nur nicht so neugierig und aufgeregt, falle viele Jahre lang, die müde unglückliche Antwort oder der Ausdruck dieser Stimmung verlässt mich lange nicht , die Begeisterung allerdings auch nicht. Begeisterung mit anschließendem Verstummen, müder Bedrücktheit.




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