Zeitlupe:
Zu
der Zeit, als dieser Brief geschrieben wurde, bin ich, die Jüngste,
der „Nachkömmling“, noch nicht auf der Welt, ich liege als
„Quark im Schaufenster“ wie man von Ungeborenen zu sagen pflegte,
habe keine Ahnung von meinen späteren Eltern, die sich mit „Mädel“
und „lieber Papa“ anreden, von Krieg und einer Stadt namens
Paris, in die „unsere Truppen einrückten“ und die so „besondere
Frauenzimmer“ beherbergt.
1947,
vier schicksalhafte Jahre später, im Wonnemonat Mai, am
Pfingstmontag, werde ich geboren.Meine Mutter ist 39, mein Vater 42
Jahre alt. Mein Vater ist nach Kriegsende zurück gekommen, nicht
heil und unversehrt. Er hat auf einem Sanitätswagen gelegen, ein
Bein von einer Plane verdeckt. Das andere Bein ist getroffen worden.
Er muss die Wunde selbst abbinden, um nicht zu verbluten, weil die
deutschen Ärzte die Front verlassen haben. In der französischen
Gefangenschaft wird ihm das Bein bis auf einen kurzen Stumpf
amputiert und man gibt ihm Morphium gegen die Schmerzen. Da er
französisch versteht, hört er, wie ein Arzt vor ihm steht und zu
einer Schwester sagt; er werde wohl nicht durchkommen. Durch ihn sei
ein Ruck gegangen, der seine vitalen Kräfte mobilisiert habe: Ich
muss nach Hause, ich habe eine Frau und vier Kinder! Meine Mutter
erzählt uns, dass sie in dem Augenblick, als er verwundet wird, eine
kurze Ohnmacht erleidet ,zu Hause, in Deutschland. Mein Vater
überlebt und kommt, unterernährt und mit nur einem Bein, aus dem
Krieg nach Hause zurück. Eine Prothese ersetzt ihm das Bein und er
geht fortan mit einem Stock. Das fehlende Bein verursacht ihm bei
Wetterumstellung Phantomschmerzen. Dann spürt er jeden einzelnen Zeh
und verzieht vor Schmerzen das Gesicht.
Wenn
ich auf seinem Schoß sitze, machen wir Scherze, ist es das Holzbein
oder das gesunde Bein? Das ist das Holzbein, ach ja, und ich rutsche
auf das gesunde weiche Bein.
Äpfel
pflücken
Ich
soll mit meinen Freundinnen Äpfel sammeln gehen, in dem Schulgarten,
den wir zur Hälfte zur Verfügung haben. Eigentlich wollen wir
spielen gehen, doch meine Mutter gibt uns diesen kleinen Auftrag. Als
wir in dem Garten sind, leuchten mir die Äpfel am Baum so viel
schöner herab als die Hässlichen auf dem Boden, schon etwas
angeschlagen, so dass ich von plötzlicher Begeisterung erfasst werde
und anfange, die schönen Äpfel abzupflücken und sie in das Netz zu
sammeln. Meine Freundinnen helfen begeistert mit. Aus Freude über
die Tätigkeit hab ich die Hoffnung, das Gesicht meiner Mutter
aufzuhellen. Freude, die sich von einem kleinen Mädchen auf ihre
Mutter überträgt, an der Tochter, die so vergnügt ist, auch wenn
der Auftrag nicht korrekt ausgeführt wurde. Ich wünsche nichts
sehnlicher, als dass sich meine Stimmung auf meine Mutter überträgt
und ich meine Mutter glücklich mache. Vielleicht wird sie mich
anlachen und sagen: „ Das hast du wirklich gut gemacht, eine gute
Idee. Kommt, ich schneide euch ein paar Äpfel auf, die essen wir
dann zusammen.“ Vielleicht schaffe ich es, sie aus ihrer etwas
traurigen, immer gehetzten Stimmung zu befreien. Welch eine
Erleichterung wäre das auch für mich. Bedrückte Stimmung drückt
auch mich nieder, läßt mich verstummen und in die Welt der Bücher
fliehen, in herrliche, glückliche, abenteuerliche Welten.
Als
wir mit unseren gesammelten Schätzen ankommen, sagt sie etwas müde:
„Aber ihr solltet doch die Falläpfel sammeln, nicht die vom Baum
pflücken…“ Ich falle aus den Höhen meiner Begeisterung, falle
weiter, immer weiter, wie Alice im Wunderland, nur nicht so neugierig
und aufgeregt, falle viele Jahre lang, die müde unglückliche
Antwort oder der Ausdruck dieser Stimmung verlässt mich lange nicht
, die Begeisterung allerdings auch nicht. Begeisterung mit
anschließendem Verstummen, müder Bedrücktheit.
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