Zeitlupe
„Ich
bin jetzt 13 Jahre alt, liebes Tagebuch. Ich habe meine „Tage“
bekommen, stell dir vor. Juhu!! Und Seidenstrümpfe und meinen ersten
engen Rock! Die Schneiderin, die näht mir: ein anthrazit
-farbenes Kostüm mit großem Kragen und weitem Rock , dann noch ein
dunkelrotes Kostüm mit ausgestelltem Rock! Der enge Rock ist
gestreift, mit lila, grauen und anthrazitfarbenen Streifen. die
Seidenstrümpfe dazu, mit Strumpfhaltern befestigt. Ist das nicht
toll, Tagebüchlein? Freust du dich? Die „ Periode“ ist schon
blöd, um nicht zu sagen peinlich, einfach – nur- peinlich! Wenn
man das sieht!! Beim engen Rock, die dicken Binden!!“
Ich
habe zwei gute Freundinnen und bin schon neidisch gewesen, dass mir
eine zuvor gekommen ist. Zu meiner Erleichterung bin ich dann
immerhin schneller als die Dritte. Plötzlich werden die Jungen
interessant, und, scheinbar von einem Tag zum anderen, erscheinen mir
manche hübscher und anziehender als andere. Jetzt macht es mir
plötzlich etwas aus, neben meiner attraktiven großen Schwester her
zu gehen und keine, nicht die geringsten Blicke junger Männer auf
mich zu ziehen. Ich falle, von den Größen - und Abenteuer
Phantasien der Elfjährigen zum unbedeutenden Dasein einer
Dreizehnjährigen. Ich fühle mich wie weder Fisch noch Fleisch,
zwischen Baum und Borke. Ich hoffe auf die Zukunft. Werde ich hübsch
genug werden? Meine Schwester ist blond.
Tolle
Filmschauspielerinnen sind auch meistens blond. Marilyn Monroe z.B.,
mit der ich kaum einen Film gesehen habe. Ich entdecke Audrey Hepburn
und erkläre sie zu meiner Retterin. Sie ist dunkelhaarig wie ich,
zart, feenhaft, träumerisch. Auch manchmal geistreich und frech,
eigentlich sehr vielseitig. Und, vor allen Dingen, hat sie etwas
Kindliches. So darf sie also sein, auch wenn sie dem Alter nach schon
heiratsfähig ist.
Der
enge Rock gefällt mir eigentlich nicht so sehr, zumal er nur
eingeschränkte Bewegungsfreiheit zuläßt. Aber vielleicht ist es
genau das, was ich im Hinterkopf habe: Frauen dürfen sich nur
gemessen bewegen, dürfen nicht überschwänglich sein, von Leben und
Gefühlen strotzen. Ich gerate in die Nähe meiner Mutter, ihrer
Rolle als pflichtbewusste Ehefrau. Meine Mutter ist schon in den
Wechseljahren und leidet unter den Mühen des Alltäglichen. Ihre
Schwester Eila hilft kräftig bei der Hausarbeit, macht die „grobe“
Arbeit, putzen und waschen. Meine Mutter kocht und kauft ein. Da mein
Vater nicht in der Lage ist, ihr zu helfen, werden Getränke usw ins
Haus gebracht. Trotz dieser Hilfen wirkt meine Mutter gehetzt. Sie
fällt in dieser Zeit auch manchmal vom Fahrrad.
Meine
Mutter wird noch wortkarger zu mir, nachdem ihr Beitrag zur
Aufklärung meinerseits ein paar grässliche katholische Broschüren
sind, die ich als Zumutung empfinde und unter meiner Würde. Ich
traue mich aber nicht, es anzusprechen.
Ich
toupiere mir die Haare , trage einen blassen Lippenstift auf und
biege meine Wimpern mit einer Wimpernzange geduldig hoch, aber auf
Familienphotos sehe ich nicht gerade glücklich aus, eher traurig und
ein wenig trotzig. Das Leben ist mir noch vor ein, zwei Jahren
abenteuerlich und voller Bewegung vorgekommen, jetzt ist es kurz und
eng geworden. Ich komme mir lächerlich vor und irgendwie dumm.
„Trevira“
heißt der Stoff. Er ist glatt und fühlt sich trotzdem weich an.
Ein zarter Glanz liegt darüber. Ich befühle ihn. Es ist ein
supermoderner Stoff, künstlich hergestellte Chemiefaser, mit keiner
Naturfaser vergleichbar. Modern, das heißt für mich neu,
interessant, besonders, auffallend. Breite Streifen verlaufen von
oben nach unten. Die Farben finde ich schick, irgendwie elegant. Ich
probiere ihn an. Er ist knie kurz und sitzt eng auf der Hüfte. Eine
Falte am unteren rückwärtigen Teil lässt ein wenig Beinfreiheit
zu. Damit fühle ich mich gleich ein paar Jahre älter. Endlich! Ich
bin stolz, gehöre jetzt ein wenig mehr zu den Erwachsenen.
Das
Gehen ist gewöhnungsbedürftig. Man muss kleinere Schritte machen.
Außerdem gehören unbedingt Nylonstrümpfe dazu, und Pumps, mit
kleinen Pfennigabsätzen, oder Ballerinas.
Ich
gehe ein paar Schritte, hab ein wenig Angst. Schon sehr neu, dieses
Gefühl. Mir fehlt die Bewegungsfreiheit. Ich bin wütend. Muss ich
jetzt immer so bescheuert mit kleinen Trippelschritten gehen, nur um
dazu zu gehören und den Jungen zu gefallen?
Keine
Musik? Keine Bücher?
Sicher
hab ich immer noch viel gelesen, Bücher, die im
Jung-Mädchen-Kalender „heute, morgen, übermorgen“ der
Zeitschrift „Brigitte“ empfohlen wurden, Cili Wethekam und Mary
Stolz. Darin geht es schon um erste Liebe, Enttäuschung, erwachsen
werden. Ein Buch ist: Liebe hat Zeit, von Mary Stolz. Dort geht es um
Probleme des erwachsen Werdens, erste Liebe, Teenager-Bösartigkeit.
Das Buch trifft schon den richtigen Ton. Es spricht mich an. Meine
Mutter schenkt mir einen Sammelband „Blühendes Leben“, ein
wirklich gut gemeintes „Buch für Mädchen von heute“, mit einem
Foto von einem hübschen strahlenden blonden jungen Mädchen mit
einem Obstkorb im Arm. Obst und Gemüse. Eigentlich sieht sie wie ein
perfektes „Deutsches Mädel“ aus, allerdings geschminkt, aber
dezent. Und schon eine werdende Hausfrau, oder was soll der Obstkorb
symbolisieren? Die „Fülle der Natur“? Dann könnte sie doch auch
mitten in einer Blumenwiese sitzen oder so. Geschichten der
Weltliteratur, wirklich liebevoll gestaltet und gut gemeint mit viel
Verständnis für die Irrungen und Wirrungen der Jugend. Aber
irgendwie mag ich das Buch nicht, es ist mir zu schwer. Vielleicht
auch zu pädagogisch. Eine Welt, die da aufgeblättert wird, die man
aber lieber erstmal, peu a peu, selber entdecken möchte und daraus
eine eigene Kultur entwickeln, unvollkommener, freier, frecher.
Blödsinn machen, über die Stränge schlagen, albern sein.
Ich
klappe das Buch zu und ab damit ins Regal.
Manchmal
hole ich mir Bücher aus dem Bücherschrank meines Vaters. Aber
insgesamt wird es auch hier enger, die Phantasie streikt und
schmollt.
Musik?
Was gab es? „Speedy Gonzales“ , Rock’n Roll, Twist. Elvis war
irgendwie peinlich, schmalzig.
Love
me tender“
Nee,
von so einem möchte ich nicht geliebt werden. Was der mit Mädchen
vorhat, dafür bin ich noch viel zu jung. Erstmal nur Blicke werfen,
sich unterhalten, vielleicht mal ein Kuß.
Elvis
ist viel zu heftig. Kann ich mir alles noch gar nicht vorstellen. Ist
auch nicht mein Typ.
Dabei
ist Rock’n Roll schon toll. Das Tanzen, die Musik: temperamentvoll,
amerikanisch, bringt ein super Lebensgefühl in unsere etwas
verklemmten Beziehungen zum anderen Geschlecht. Beim Tanzen haben wir
viel Spaß und können befreit lachen.
Hinter
den Spiegeln
Ich
betrete einen großen Saal. Sie sitzt in einer Ecke vor einem Flügel
und spielt eine Sonate von Mozart. Ich trete an den Flügel, stütze
mich mit einem Ellenbogen darauf und schaue sie traurig an. Sie
spielt noch ein wenig weiter, hört dann auf und schaut mich an.
Sie
lacht. „Was ist? Was ist dir über die Leber gelaufen? „ „Ich
will nicht erwachsen werden. Es ist ungemütlich und blöd. Aber Kind
bleiben will ich auch nicht, dann werde ich wie ein Baby behandelt.
Das ist genau so schrecklich.“
Sie
lacht wieder. „Stell es dir doch einfach so vor: Du kannst jetzt
beides. Du darfst noch ausgelassen sein und alles tun, was ein Kind
möchte, und gleichzeitig kannst du ausprobieren, wie es ist,
erwachsen zu sein. Keiner wird dir das eine oder andere übel nehmen.
Spiel doch einfach damit“
Ich
schaue sie erstaunt an: „Spielen? Dann halten mich doch alle für
verrückt und nehmen mich nicht ernst.“
„Ach,
Blödsinn, das versteht jeder. Schließlich waren sie alle mal in
deinem Alter. Nimm es nicht so ernst, so lange du noch unsicher bist.
An einem Tage bist du eine elegante Dame und am anderen Tag die
freche Göre“ „Oh ja, Pippi Langstrumpf oder Eva-Lotte und dann
Conny Froboess und Audrey Hepburn.“
Ich
tanze verklemmt quer durch den Saal in mein Zimmer und probiere
verschiedene Posen aus, die mittendrin abbrechen.Mein Spiegelbild
versteckt sich.
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